100 Experimente im Erdorbit
Redaktion
/ Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt astronews.com
28. Mai 2014
Heute Abend beginnt für den deutschen Astronauten Alexander
Gerst das wohl bislang größte Abenteuer seines Lebens: Der 38-jährige
Geophysiker soll rund sechs Monate lang auf der Internationalen Raumstation ISS
leben und arbeiten. Dabei hat er ein umfangreiches Wissenschaftsprogramm zu
absolvieren, auf das er sich zuvor sorgfältig vorbereitet hat.

In der
Schwerelosigkeit werden Legierungen zukünftig
behälterfrei in der EML-Anlage geschmolzen. Eine
elektromagnetische Spule hält die Probe in der
Schwebe. Alexander Gerst trainiert am
Europäischen Astronautenzentrum EAC in Köln, wie
die EML-Anlage funktioniert.
Foto: DLR |
Wie können Turbinenschaufeln noch leichter und gleichzeitig stabiler werden?
Kann ein elektrischer Leiter ein Magnetfeld aufbauen, das Raumschiffe vor dem
Sonnenwind schützt? Was können wir aus den physiologischen Veränderungen, die
die Astronauten im Weltraum erfahren, für den Menschen auf der Erde lernen?
Diesen und weiteren spannenden Fragen will der deutsche ESA-Astronaut Alexander
Gerst an Bord der Internationalen Raumstation ISS während seiner Mission "Blue
Dot" auf den Grund gehen.
Unter dem Motto "Shaping the future - Zukunft gestalten" soll der 38 Jahre
alte Geophysiker zwischen seinem Start am heutigen Abend und seiner Landung am
11. November 2014 rund 100 Experimente durchführen. 35 Experimente kommen aus
Europa - die meisten davon aus deutschen Forschungseinrichtungen wie dem
Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Ein wichtiger Komplex dabei sind materialwissenschaftliche Experimente:
Leichte und stabile Werkstoffe sind wichtig für die Industrie. Auf der Erde
sinken schwere Teile in einer Schmelze aber immer nach unten in Richtung
Erdmittelpunkt. Da in der Umlaufbahn der ISS Schwerelosigkeit herrscht,
verteilen sich die Legierungsbestandteile einheitlich in der Schmelze. Je
einheitlicher die Verteilung, desto stabiler und hochwertiger ist der Werkstoff.
Bislang werden auf der ISS schon Gussteile in den beiden Öfen des Material
Science Lab (MSL) geschmolzen.
Um diese Forschung weiter auszubauen, soll Gerst einen neuen, einzigartigen
Hightech-Schmelzofen, den Elektromagnetischen Levitator (EML), auf der ISS
installieren, in Betrieb nehmen und bis zu sechs Proben schmelzen. In dem
Kooperationsprojekt EML von DLR und ESA schweben die Proben frei im Raum und
werden durch ein elektromagnetisches Feld in Position gehalten. Mit dem Ofen
wollen viele Forscher - unter anderem Wissenschaftler des DLR-Instituts für
Materialphysik im Weltraum, deutscher Universitäten, des Forschungsinstituts
ACCESS in Aachen und der Metallindustrie - neuartige Legierungen testen.
Gerst wird auch untersuchen, wie sich Emulsionen in Schwerelosigkeit
verhalten und wie man diese Mixturen stabiler machen kann. Emulsionen spielen
zum Beispiel in der Lebensmittelproduktion, der kosmetischen und
pharmazeutischen Industrie, aber auch in der Ölindustrie eine wichtige Rolle.
Viele dieser speziellen Mischungen müssen in Lebensmitteln, Kosmetika und
pharmazeutischen Produkten lange Zeit hochstabil bleiben.
Im DCMIX-Experiment der Universität Bayreuth wird Gerst Diffusionsprozesse in
Fluiden untersuchen, die wenigstens drei Komponenten enthalten. Das Experiment
soll auch dabei helfen, Mischungsunterschiede von Erdöl in Lagerstätten besser
zu verstehen. Auch die Plasmaforschung wird während der Blue Dot-Mission
einen gewaltigen Schritt in die Zukunft machen. Gerst soll die PK-4-Anlage in
Empfang nehmen und im europäischen Columbus-Labor installieren - ein
weiteres Highlight seiner Mission.
Mit dem Nachfolger der deutschen Anlagen PK-3 und PK-3-Plus sollen
physikalische Grundlagen komplexer, dreidimensionaler Plasmen erforscht werden.
Diese Plasmen bestehen aus einem kalten elektrisch leitendenden Gas, das mit
Staubpartikeln angereichert ist. Da die Partikel absinken und das komplexe
Plasma in Richtung der Schwerkraft stauchen, ist ein Plasmakristall auf der Erde
auf nur wenige Gitterebenen begrenzt. Nur unter Schwerelosigkeit können große,
homogene 3D-Strukturen ungestört gebildet und erforscht werden.
Auf der Erde hilft diese Forschung, Staubbildung beim Herstellungsprozess von
Mikrochips zu kontrollieren. An den ISS-Experimenten sind neben der
neugegründeten "Forschergruppe Komplexe Plasmen" im DLR in Oberpfaffenhofen,
Wissenschaftler des Joint Institute for High Temperatures (JIHT) in Moskau und
der Universität Gießen beteiligt.
Mit dem das MagVector/MFX-Experiment des DLR Raumfahrtmanagements soll die
Schutzwirkung des Erdmagnetfelds vor den hochenergetischen Teilchen des
Sonnenwinds genauer untersucht werden. Die Hoffnung ist, dass in Zukunft
aufwendige Spezialverkleidungen für Raumfahrzeuge der Vergangenheit angehören
werden, wenn durch die Experimente einmal ein Schutzschild entwickelt werden
kann, wie man es bislang nur aus Science-Fiction-Filme kennt.
Gerst macht nicht nur Experimente, sondern ist auch selbst Proband: In der
Schwerelosigkeit läuft nämlich im Zeitraffer das Gleiche ab, was Menschen beim
Alterungsprozess auf der Erde erleben: Muskelabbau, Osteoporose,
Rückenbeschwerden, Kreislauf- und Orientierungsprobleme, zunehmende
Kraftlosigkeit sowie Probleme im Immunsystem. Daher können in der
Raumfahrtmedizin an gesunden Astronauten Krankheiten und Alterungsphänomene
studiert werden. Veränderungen des Knorpels im Kniegelenk, der Tagesrhythmik der
Köperkerntemperatur sowie der Eigenschaften der Haut sind drei der deutschen
Experimente, die vor der Mission "Blue Dot" begonnen haben und die Gerst auf der
ISS weiterführen soll.
Mit den beiden Experimenten BOSS und BIOMEX soll Gerst auch Beiträge zur
Astrobiologie liefern, die Fragen nach dem Ursprung des Menschen, der Verteilung
und der Entwicklung von Leben sowie nach Lebensmöglichkeiten außerhalb der Erde
erforscht. So sollen etwa Mikroorganismen in der Anlage Expose-R an der
Außenseite der ISS den harten Bedingungen des Weltraums wie Strahlung und Vakuum
ausgesetzt werden.
Der Start der Mission "Blue Dot" wird von NASA, ESA und DLR im Internet
übertragen und ist beispielsweise auch im dritten Programm des bayerischen
Fernsehens und auf Phoenix zu sehen. Der Start ist für 21.57 Uhr MESZ
vorgesehen. Nur sechs Stunden später, morgen um 3.48 Uhr MESZ, soll das
Raumschiff Sojus TMA-13M an die ISS andocken.
|