Neutrinos und ihre Antiteilchen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Technischen Universität München astronews.com
11. September 2019
Sind Neutrinos ihre eigenen Antiteilchen und kann Materie
also auch ohne Antimaterie erzeugt werden? Diese spannenden Fragen wollen
Teilchenphysiker im Rahmen des GERDA-Experiments im Gran-Sasso-Untergrundlabor
klären. Sie suchen dazu nach dem neutrinolosen doppelten Betazerfall. Inzwischen
arbeiten sie an dem Folgeprojekt LEGEND, das eine noch höhere Genauigkeit
erreichen soll.

Arbeiten an den Germanium-Detektoren im
Reinraum des unterirdischen Labors von Gran Sasso.
Foto: J. Suvorov / GERDA [Großansicht] |
Das Standardmodell der Teilchenphysik ist seit seinen Anfängen nahezu
unverändert gültig. Widersprüche zwischen Theorie und Experiment haben sich
bislang nur bei Neutrinos gezeigt. Die Neutrino-Oszillation war dabei die erste
Beobachtung, die nicht mit den Vorhersagen übereinstimmte. Sie beweist, dass
Neutrinos im Widerspruch zum Standardmodell eine Masse ungleich Null haben. 2015
wurde diese Entdeckung mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.
Hinzu kommt die Vermutung, dass Neutrinos sogenannte Majorana-Teilchen sind:
Anders als alle anderen Bausteine der Materie könnten sie ihre eigenen
Antiteilchen sein. Dies würde auch eine Erklärung dafür liefern, warum es im
Universum so viel mehr Materie als Antimaterie gibt. Zur Überprüfung der
Majorana-Vermutung sucht die GERDA-Kollaboration nach dem bisher nicht
beobachteten neutrinolosen doppelten Betazerfall im Germanium-Isotop 76-Ge:
Dabei wandeln sich zwei Neutronen in einem 76-Ge-Kern gleichzeitig in zwei
Protonen um, wobei zwei Elektronen emittiert werden. Dieser Zerfall ist im
Standardmodell verboten, da die beiden Antineutrinos – die ausgleichende
Antimaterie – fehlen.
Die Technische Universität München (TUM) beteiligt sich seit vielen Jahren
intensiv am Projekt GERDA (GERmanium Detector Array). Sprecher des neuen
Projekts LEGEND ist Prof. Stefan Schönert, der die TUM-Forschungsgruppe leitet.
GERDA ist das erste Experiment auf dem Gebiet, das den störenden Untergrund
soweit reduzieren konnte, dass der gesuchte neutrinolose doppelte Betazerfall,
sofern er existiert, eine Halbwertszeit von mindestens 1026 Jahren
haben muss, das ist das 10.000.000.000.000.000-fache des Alters des Universums.
Die Physiker wissen, dass Neutrinos mindestens hunderttausend Mal mal
leichter sind als Elektronen, die nächstschwereren Teilchen. Welche Masse sie
genau haben, ist allerdings noch unbekannt und ein weiteres wichtiges
Forschungsthema. Interessanterweise korrespondiert die Halbwertszeit des
neutrinolosen doppelten Betazerfalls mit einer speziellen Variante der
Neutrino-Masse, der Majorana-Masse.
Kombiniert man das neue GERDA-Ergebnis mit denjenigen anderer
Doppel-Beta-Zerfallsexperimente, so muss diese Masse sogar mindestens eine
Million mal kleiner sein als die des Elektrons. Physikalisch ausgedrückt läge
die Masse bei unter 0,07 bis 0,16 eV/c2. Massen werden in der
Teilchenphysik statt in Kilogramm entsprechend der Einsteinschen Gleichung E=mc2
in Elektronenvolt [eV] (als Einheit für die Energie)/Lichtgeschwindigkeit zum
Quadrat angegeben, da der Zahlenwert sonst unvorstellbar klein würde: 1 eV/c2
entspricht 1,8 x 10-37 Kilogramm.
Auch andere Experimente grenzen die Neutrino-Massen ein: Die jüngste Analyse
der Planck-Mission kommt für die Summe der Massen der drei
Neutrino-Arten auf unter 0,12 – 0,66 eV/c2. Das
Tritium-Zerfallsexperiment KATRIN am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
wird in den kommenden Jahren die Masse des Elektron-Neutrinos mit einer
Empfindlichkeit von ca. 0,2 eV/c2 bestimmen. Die Werte können zwar
nicht direkt verglichen werden, sie erlauben es aber, die unterschiedlichen
Modelle zu überprüfen. Bislang gibt es keine Widersprüche.
Die nun vorgestellten Beobachtungen wurden mit einer Detektormasse von 35,6
Kilogramm 76-Ge gemacht. Eine neue internationale Zusammenarbeit unter dem Namen
LEGEND wird nun die Detektormasse bis 2021 auf 200 Kilogramm 76-Ge erhöhen und
die Störungen so weit reduzieren, dass nach fünf Jahren eine Empfindlichkeit von
1027 Jahren erreicht ist.
GERDA ist eine internationale europäische Kooperation von mehr als 100
Physikern aus Belgien, Deutschland, Italien, Russland, Polen und der Schweiz. In
Deutschland sind die Technischen Universitäten München und Dresden, die
Universität Tübingen und die Max-Planck Institute für Physik und für Kernphysik
beteiligt.
Über ihr Vorhaben berichten die Forscher in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Science erschienen ist.
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