Experimente im fliegenden Klassenzimmer
Redaktion
/ Pressemitteilung des DLR astronews.com
11. September 2014
Selbst einfache Experimente an Bord der Internationalen
Raumstation ISS können Wissenschaftler faszinieren - und Laien auf dem Erdboden
erst recht. Das DLR hat nun drei kleine Filme veröffentlicht, die den deutschen
ESA-Astronauten Alexander Gerst bei alltäglichen Experimenten auf der ISS zeigt
- unter anderem mit einem Papierflieger.
ESA-Astronaut Alexander Gerst bei einem
Experiment mit einem Papierflieger auf der ISS
(Videoausschnitt).
Bild: ESA / DLR [Großansicht] |
Nach 100 Tagen im All ist der Schwebezustand für ESA-Astronaut Alexander
Gerst schon Normalität geworden. Allerdings: In der Welt der Schwerelosigkeit
laufen selbst einfache Experimente anders ab als auf der Erde. Papierflieger
bleiben in der Internationalen Raumstation ISS nach ihrem Flug scheinbar müde in
der Luft hängen, Luftblasen im Wasser bleiben viel länger stabil als auf der
Erde, und ein rotierender Kreisel zeigt deutlich, wie die Raumstation auf ihrer
Bahn um die Erde fällt.
"Flying Classroom" nennt sich die Experiment-Reihe, die das Deutsche Zentrum
für Luft- und Raumfahrt (DLR) gemeinsam mit der ESA entwickelt hat. "Diese
Experimente sind ganz dicht an dem, was jeder auf der Erde wiederholen kann -
nur mit einem ganz anderen Ergebnis als in der Schwerelosigkeit", sagt
Projektleiter Dr. Matthias Sperl vom DLR.
Das Zubehör ist überschaubar: Mal ist es ein Blatt Papier, mit dem Alexander
Gerst experimentiert, mal benötigt er einen Alubeutel Trinkwasser. "Das sind
alles Gegenstände aus dem Alltag", betont DLR-Materialphysiker Sperl. Die
Vorbereitungszeit für die Experimentreihe hat dennoch fast ein Jahr gedauert,
denn auf der ISS geschieht nichts ohne konkrete und ganz exakte Planung. Das
Papier muss im rechten Augenblick zur Verfügung stehen, der Kreisel vorhanden
sein und auch die Sicherheitsdokumente müssen wie für jedes der zahlreichen
Experimente ausgefüllt werden. Nicht zuletzt muss auch die Durchführung der
Experimente in den eng getakteten Zeitplan des Astronauten eingeplant werden.
"Wir betreten wissenschaftliches Neuland", sagt Astronaut Alexander Gerst.
Das macht er mit einem Kreisel, der zeigen soll, wie die ISS auf ihrer Flugbahn
um die Erde etwa vier Grad pro Minute nach vorne kippt. Gerst versetzt dazu den
Kreisel in Rotation und stabilisiert ihn so. Statt in der Schwerelosigkeit
ziellos zu taumeln, behält der Kreisel seine Ausrichtung bei. "Wenn man ihn
jetzt kippen will, wird er störrisch - er mag nicht", sagt Gerst.
Und auch während die ISS innerhalb von 90 Minuten einmal um die Erde kreist,
bleibt der Kreisel beständig. Allerdings: Da die Raumstation eigentlich um den
hartnäckigen, rotierenden Kreisel fällt, sieht es in dem Video aus der ISS so
aus, als ob der Kreisel kippt. "Aus unserer Sicht sieht es zwar so aus, als ob
der Kreisel nach hinten kippt, aber in Wirklichkeit kippt die Raumstation nach
vorne." Mit einem einfachen Kreisel und einer einfachen Versuchsanordnung hat
der Astronaut somit bewiesen, dass das Raumschiff seine eigene Bahnbewegung hat
- auch wenn alles in einem einheitlichen Schwebezustand zu sein scheint.
DLR-Projektleiter Matthias Sperl ist mehr als zufrieden mit dem Verlauf des
Experiments: "Es ist bombastisch, dass man die Flugbahn und das Kippen der ISS
mit einem Kreisel so messen kann - das hat bisher noch niemand so gemacht."
Auch ein simples Blatt Papier kann in der ISS zum Experiment werden - wenn es
denn richtig gefaltet wird. "Mit einem Papierflieger kann man sehr gut zeigen,
dass Schwerelosigkeit und Vakuum verschiedene Dinge sind", betont Matthias
Sperl. Auch wenn alles schwebt im Inneren der ISS, so herrscht natürlich kein
Vakuum. Der gefaltete Flieger - "mein erster Weltraumflieger", sagt Alexander
Gerst - verhält sich deshalb auch im Flug wie auf der Erde: Die Reibung mit der
Luft bremst ihn aus.
Nur: Sobald die Bewegungsenergie versiegt, bleibt der Papierflieger in der
Luft stehen und lässt sich nur von den Luftströmungen der ISS-Belüftung leicht
hin und her bewegen. Für Sperl ein deutlicher Beleg: "Wenn Luft vorhanden ist,
gelten auch immer die Regeln der Aerodynamik", erläutert er. "Aber weil keine
Kraft zum Boden zieht, bleibt der Flieger in der Luft stehen." Bei einem
Flugexperiment außerhalb der Raumstation, würde nur noch die Restatmosphäre den
Papierflieger im Laufe einer sehr langen Zeit abbremsen - "und er würde wohl
nach einigen Jahren in der Atmosphäre verglühen".
Das dritte Experiment im "Flying Classroom" hat einen engen Bezug zur
aktuellen Forschung: Dafür füllt Alexander Gerst eine Spritze mit Wasser und
lässt ein wenig Raum für Luft. Mit ein wenig Schütteln entsteht so ein recht
stabiler Schaum aus Wasser und Luft. "Auf der Erde würden die Luftblasen durch
den Auftrieb aufsteigen, miteinander in Kontakt kommen und platzen", erklärt
Sperl, der am DLR-Institut für Materialphysik im Weltraum arbeitet. "Die
Schwerelosigkeit ändert dies komplett: Dort bleiben die Luftblasen, wo sie
entstanden sind und platzen nicht." Zurzeit planen die Wissenschaftler ein
Experiment für die ISS, die dies ganz genau untersucht. Dabei soll bei Schäumen
unterschiedlicher Zusammensetzung beobachtet werden, wann sie zerfallen und wie
sie sich dynamisch verhalten. "Wenn wir diese Mechanismen besser verstehen,
können wir dieses Wissen auch bei der Anwendung von Schäumen in der Industrie
einbringen."
Für Astronaut Alexander Gerst sind diese Experimente auch noch nach 100 Tagen
Leben und Forschen in der Schwerelosigkeit spannend: "Ich bin immer wieder
erstaunt bei ganz kleinen Effekten, die man erst nach einer Weile realisiert und
die ganz anders sind, als wir sie von der Erde gewohnt sind", sagt er. "Genau
diese Dinge machen wir uns hier oben im Columbus-Raumlabor zunutze".
Die Videos der Experimente sind auf der Webseite des DLR zu sehen und auch in
verschiedenen Auflösungen herunterladbar.
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