Neue Rechnungen lösen Rätsel der Sonnenforschung
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
23. Mai 2022
Die Auswertung von Sonnenschwingungen und die Theorie der
Sternentwicklung, basierend auf der chemischen Zusammensetzung der Sonne,
lieferten bislang widersprüchliche Daten zum Aufbau der Sonne. Neue Rechnungen
zur Physik der Sonnenatmosphäre konnten diese Diskrepanz nun auflösen und zudem
korrigierte
Häufigkeitswerte für mehrere chemische Elemente liefern.

Spektrum der Sonne, aufgenommen mit dem
hochauflösenden Spektrographen NARVAL am
Télescope Bernard Lyot des Observatoire Midi-Pyrénées.
Bild: M. Bergemann / MPIA / NARVAL@TBL
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Was tun, wenn eine bewährte Methode zur Bestimmung der chemischen
Zusammensetzung der Sonne im Widerspruch zu einer innovativen, präzisen Technik
zur Kartierung des Aufbaus der Sonne zu stehen scheint? Das war die Situation,
mit der Astronominnen und Astronomen in den letzten Jahren bei der Erforschung
der Sonne konfrontiert waren – bis neue Berechnungen, die Ekaterina Magg, Maria
Bergemann und ihre Kolleginnen und Kollegen jetzt veröffentlicht haben, den
scheinbaren Widerspruch auflösten.
Die bewährte Methode, um die es geht, ist die Spektralanalyse. Um die
chemische Zusammensetzung unserer Sonne oder anderer Sterne zu bestimmen, greift
man in der Astronomie routinemäßig auf Spektren zurück: auf regenbogenartige
Zerlegungen des Lichts in seine verschiedenen Wellenlängen. Sternspektren
enthalten auffällige, scharfe dunkle Linien, die erstmals 1802 von William
Wollaston entdeckt, 1814 von Joseph von Fraunhofer wiederentdeckt und in den
1860er Jahren von Gustav Kirchhoff und Robert Bunsen als Anzeichen für das
Vorhandensein bestimmter chemischer Elemente erkannt wurden.
Die bahnbrechende Arbeit des indischen Astrophysikers Meghnad Saha im Jahr
1920 zeigte den quantitativen Zusammenhang zwischen der Stärke dieser
"Absorptionslinien" und der Sterntemperatur sowie der chemischen Zusammensetzung
auf. Das lieferte die Grundlage für unsere physikalischen Modelle von Sternen.
Cecilia Payne-Gaposchkins Erkenntnis, dass Sterne wie unsere Sonne hauptsächlich
aus Wasserstoff und Helium und nur in Spuren aus schwereren chemischen Elementen
bestehen, basiert auf dieser Arbeit.
Die zugrundeliegenden Rechnungen, die spektrale Eigenschaften einerseits,
chemische Zusammensetzung und Physik des stellaren Plasmas andererseits in
Beziehung setzen, sind für die Astrophysik seit Sahas Zeiten von entscheidender
Bedeutung. Sie bildeten die Grundlage für jahrhundertelangen Fortschritt beim
Verständnis der chemischen Entwicklung des Universums ebenso wie für die
Rekonstruktionen der physikalischen Struktur und zeitlichen Entwicklung von
Sternen und Exoplaneten. Es war daher ein ziemlicher Schock, als neue
Beobachtungsdaten verfügbar wurden, die Einblicke in das Innenleben unserer
Sonne ermöglichten, die partout nicht mit dem zusammenpassten, was man auf Basis
der Spektren rekonstruiert hatte.
Das moderne Standardmodell der Sonnenentwicklung wird anhand einer (in der
Sonnenphysik) berühmten Messreihe zur chemischen Zusammensetzung der
Sonnenatmosphäre kalibriert, die 2009 veröffentlicht wurde. Bei den neuartigen
Daten handelt es sich um sogenannte helioseismische Daten, also Messungen, die
sehr genau die winzigen Schwingungen der Sonne als Ganzes erfassen – die Art und
Weise, wie sich die Sonnenoberfläche in charakteristischen Mustern rhythmisch
ausdehnt und zusammenzieht, auf Zeitskalen zwischen Sekunden und Stunden. So wie
seismische Wellen den Geologen wichtige Informationen über das Erdinnere
liefern, oder der Klang einer Glocke Informationen über ihre Form und
Materialeigenschaften, liefert die Helioseismologie Informationen über das
Innere der Sonne.
Aus hochpräzisen helioseismischen Messungen konnte man Rückschlüsse auf die
innere Struktur der Sonne ziehen, die im Widerspruch zu den auf der Sonnenchemie
basierenden Standardmodellen vom Aufbau unseres Sterns standen. Konkret war der
Helioseismologie zufolge der sogenannte konvektive Bereich im Inneren unserer
Sonne, in dem Materie aufsteigt und wieder absinkt wie Wasser in einem Kochtopf,
wesentlich größer, als es das Standardmodell vorhersagte. Auch die
Geschwindigkeit der Schallwellen in den unteren Regionen der Konvektionszone
wich von den Vorhersagen des Standardmodells ab, ebenso wie die Gesamtmenge an
Helium in der Sonne.
Zu allem Überfluss passten außerdem bestimmte Messungen von Sonnenneutrinos –
flüchtige, schwer nachweisbare Elementarteilchen, die uns direkt aus den
Kernregionen der Sonne erreichen – nicht recht zum Standardmodell. In der
Astronomie sprach man bald von einer "solar abundance crisis", sinngemäß einer
Sonnenchemie-Krise. Die Lösungsvorschläge waren ungewöhnlich bis exotisch: Hatte
die Sonne während ihrer Planetenentstehungsphase vielleicht metallarmes Gas
angehäuft? Wird die Energie im Sonneninneren von den eigentlich ja nicht
wechselwirkenden Teilchen der Dunklen Materie transportiert?
Die jetzt veröffentlichte Studie eines Teams um Ekaterina Magg und Maria
Bergemann präsentiert eine Lösung, die ganz ohne exotische Physik auskommt. Sie
bietet stattdessen eine grundlegende Überarbeitung der Modelle, auf deren Basis
vom Sonnenspektrum auf die chemischen Zusammensetzung geschlossen wird. Frühe
Studien dieser Art stützten sich auf die Annahme eines sogenannten lokalen
thermischen Gleichgewichts: Sie gingen davon aus, dass die Energie in jedem
Bereich der Atmosphäre eines Sterns in jeder der Entwicklungsphasen Zeit hat,
sich zu verteilen und eine Art Gleichgewicht zu erreichen. Damit kann man jeder
solchen Region eine Temperatur zuordnen. Das führt zu einer erheblichen
Vereinfachung der Berechnungen.
Doch bereits in den 1950er Jahren wurde von einigen Forschenden erkannt, dass
dieses Bild zu stark vereinfacht war. Seitdem werden in immer mehr Studien
sogenannte Nicht-LTE-Berechnungen durchgeführt, bei denen die Annahme eines
lokalen Gleichgewichts (englisch local thermal equilibrium, LTe) entfällt. Die
Nicht-LTE-Berechnungen bieten eine detaillierte Beschreibung des
Energieaustauschs innerhalb des Systems – Atome werden durch Photonen
(Lichtteilchen) angeregt oder stoßen zusammen, Photonen werden emittiert,
absorbiert oder gestreut. In Sternatmosphären, in denen die Dichte viel zu
gering ist, als dass das System ein thermisches Gleichgewicht erreichen könnte,
zahlt sich diese Art von Detailgenauigkeit aus. Dort liefern
Nicht-LTE-Berechnungen Ergebnisse, die sich deutlich von den Rechnungen
unterscheiden, die ein lokales thermisches Gleichgewicht postulieren.
Die Gruppe von Maria Bergemann am Max-Planck-Institut für Astronomie ist
weltweit führend bei der Anwendung von Nicht-LTE-Berechnungen auf
Sternatmosphären. Im Rahmen ihrer Doktorarbeit in dieser Gruppe machte sich
Ekaterina Magg daran, die Wechselwirkung der Strahlung mit der Materie in der
Sonnenphotosphäre genauer zu berechnen – die Photosphäre ist diejenige äußere
Schicht der Sonnenatmosphäre, aus der das meiste nach außen abgestrahlte Licht
der Sonne stammt und in der auch die Absorptionslinien im Sonnenspektrum
eingeprägt sind.
In der betreffenden Studie betrachteten die Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler alle chemischen Elemente, die für die aktuellen Modelle der
Sternevolution relevant sind. Um sicherzustellen, dass sie dabei konsistente
Ergebnisse erhielten, wendeten die Forschenden gleich mehrere unabhängige
Methoden zur Beschreibung der Wechselwirkungen zwischen den Atomen und dem
Strahlungsfeld der Sonne an. Für die Beschreibung der konvektiven Regionen
unserer Sonne verwendeten sie bestehende Simulationen, die sowohl die Bewegung
des Plasmas als auch die Strahlungsphysik berücksichtigen. Für den Vergleich mit
Spektraldaten wählten sie den Datensatz mit der höchsten verfügbaren Qualität:
das vom Institut für Astrophysik und Geophysik der Universität Göttingen
veröffentlichte Sonnenspektrum. "Wir haben uns dabei intensiv mit der Analyse
von statistischen und systematischen Effekten beschäftigt, die die Genauigkeit
unserer Ergebnisse einschränken", erklärt Magg.
Die neuen Berechnungen ergaben eine für einige Elemente deutlich andere
Beziehung zwischen der Elementhäufigkeit und der Stärke der entsprechenden
Spektrallinien als in früheren Arbeiten. Entsprechend kommen im Vergleich zu
früheren Analysen deutlich andere chemische Häufigkeiten heraus, wenn man das
beobachtete Sonnenspektrum analysiert. "Wir haben festgestellt, dass der Anteil
an schwereren Elementen als Helium in der Sonne 26 % höher liegt, als in
früheren Studien behauptet", erklärt Magg.
Diese schwereren Elemente nennt man in der Astronomie "Metalle". Insgesamt
machen Metalle nur einige tausendstel Prozent aller Atomkerne in der Sonne aus;
die beste Schätzung für diesen Wert liegt jetzt um 26 % höher als in früheren
Studien. "Der Wert für die Sauerstoffhäufigkeit war fast 15 % höher als in
früheren Studien," unterstreicht Magg. Die neuen Werte stimmen gut mit der
chemischen Zusammensetzung von primitiven Meteoriten ("CI-Chondriten") überein,
von denen man annimmt, dass sie der chemischen Zusammensetzung des frühen
Sonnensystems entsprechen.
Setzt man die neuen Werte als Eingabe in die Modelle des Aufbaus und der
Entwicklung der Sonne ein, dann verschwindet die rätselhafte Diskrepanz zwischen
den Ergebnissen jener Modelle und den helioseismischen Messungen. Die gründliche
Analyse der Entstehung der Spektrallinien durch Magg, Bergemann und ihres Teams,
die sich auf wesentlich vollständigere Modelle der zugrunde liegenden Physik
stützt als vorangehende Arbeiten, hat also gezeigt, wie sich die "Krise"
überwinden lässt.
"Die neuen Sonnenmodelle, die auf den von uns bestimmten neuen Werten für die
chemische Zusammensetzung beruhen, sind realistischer als je zuvor: Sie ergeben
ein Modell der Sonne, das mit allen Informationen, die wir über die heutige
Struktur der Sonne haben – Schallwellen, Neutrinos, Leuchtkraft und Sonnenradius
– übereinstimmt, ohne dass man exotische Physik im Sonneninneren heranziehen
muss," unterstreicht Bergmann.
Ein zusätzlicher Vorteil ist, dass sich die neuen Modelle leicht auf andere
Sterne als die Sonne anwenden lassen. In einer Zeit, in der groß angelegte
Durchmusterungen wie SDSS-V und 4MOST qualitativ hochwertige Spektren für eine
immer größere Anzahl von Sternen liefern, ist diese Art von Fortschritt in der
Tat wertvoll – und stellt künftige Analysen der Sternchemie mit ihren
umfassenderen Auswirkungen auf Rekonstruktionen der chemischen Entwicklung
unseres Kosmos auf eine solidere Grundlage als je zuvor.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift Astronomy & Astrophysics erschienen ist.
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