Das präziseste Bild eines Protons
Redaktion
/ Pressemitteilung des Deutsches Elektronen-Synchrotrons (DESY) astronews.com
16. Juli 2015
15 Jahre lang wurde an Deutschlands größtem
Teilchenbeschleuniger HERA gemessen, weitere acht Jahre wurden die Daten
ausgewertet und analysiert. Jetzt haben Teilchenphysiker die weltweit
präzisesten Resultate über die innere Struktur und das Verhalten des Protons
veröffentlicht. Die Analyse zeichnet ein detailliertes Bild vom brodelnden
Teilchensee im Inneren des Teilchens.

Der Teilchenbeschleuniger HERA mit einem
supraleitenden Protonenring (oben) und dem
normalleitenden Elektronenring (unten).
Foto: DESY [Großansicht] |
"Diese Publikation beinhaltet die Kronjuwelen von HERA und wird auf lange Zeit
das präziseste Bild des Protons sein", so Joachim Mnich, Forschungsdirektor
am Deutschen Elektronen Synchrotron (DESY) in Hamburg. "Diese Ergebnisse sind
nicht nur wichtig für das Verständnis der grundlegenden Eigenschaften der
Materie, sie sind auch eine essentielle Basis für Experimente an
Protonenbeschleunigern wie dem LHC am CERN in Genf."
Die Teams der beiden Detektoren H1 und ZEUS kombinierten für die Auswertung die
Daten von mehr als zwei Milliarden Teilchenkollisionen, die sie am Beschleuniger
HERA des DESY beobachtet hatten. Rund 300 Autoren von 70 Forschungsinstituten
haben intensiv an dieser Analyse gearbeitet.
In jedem einzelnen Atomkern unseres Universums befinden sich Protonen. Seit
Jahrzehnten ist bekannt, dass sie sich aus drei Quarks zusammensetzen – zwei up-
und ein down-Quark –, die durch die sogenannten Gluonen zusammengehalten werden,
die Trägerteilchen der starken Kraft. Dieses Bild zählt zum Wissen, das an
Schulen oder Universitäten gelehrt wird. Das wahre Innenleben des Protons ist
jedoch wesentlich komplexer: Das Proton gleicht einer brodelnden Teilchensuppe,
in der Gluonen weitere Gluonen produzieren oder Quark-Antiquark-Paare bilden,
die sogenannten Seequarks, die wiederum alle sehr schnell wieder miteinander
wechselwirken.
Der Teilchenbeschleuniger HERA (Hadron-Elektron-Ring-Anlage) wurde gebaut, um
tief in das Innere des Protons hineinzusehen und seine Struktur mit Hilfe von
Elektronen als Sonden genauestens zu untersuchen. Von 1992 bis 2007 wurden dazu
Protonen in einem 6,3 Kilometer langen, supraleitenden Beschleunigerring auf
fast Lichtgeschwindigkeit beschleunigt, bevor sie mit in entgegengesetzter
Richtung beschleunigten Elektronen - oder deren Antiteilchen, den Positronen -
zusammenprallten.
Elektronen und Positronen gehören zur Elementarteilchensorte der Leptonen. Die
Leptonen drangen tief in das Proton ein und wurden jeweils an einem der
Bausteine des Protons gestreut. Das geschieht entweder über die
elektromagnetische oder über die sogenannte schwache Kraft, zwei der vier
fundamentalen Kräfte der Natur. Die Reaktionen wurden in den beiden hausgroßen
Vielzweck-Detektoren H1 und ZEUS gemessen.
Dabei analysierten die Wissenschaftler die Wahrscheinlichkeit für verschiedene
Verhaltensweisen dieser Lepton-Proton-Streuprozesse an beiden Experimenten und
verglichen ihre Ergebnisse mit der bestmöglichen Beschreibung der Struktur des
Protons, der Theorie der Quantenchromodynamik (QCD). Ergebnis: Die
HERA-Ergebnisse stimmen ideal mit der QCD-Theorie überein und zeigen dabei, dass
die Struktur des Protons immer dynamischer wird, je höher die Energie ist, bei
der sie erkundet wird.
Als weiteres Ergebnis können die HERA-Daten eindrucksvoll belegen, dass sich die
elektromagnetische und die schwache Kraft bei extrem hohen Energien vereinigen,
wie es vom Standardmodell der Teilchenphysik vorhergesagt wird. Diese Erkenntnis
stützt die Vermutung der Physiker, dass diese beiden Kräfte zwei Seiten derselben
Medaille sind, obwohl die elektromagnetische Kraft bei niedrigen Energien viel
stärker ist als die schwache Kraft. Dieses Ergebnis weist vielleicht am Ende
sogar den Weg zur Vereinheitlichung aller vier Grundkräfte der Natur.
In den HERA-Daten konnten die Physiker die beiden Kräfte anhand der Art der
Trägerteilchen identifizieren, die die Kräfte vermitteln: Während die
elektromagnetische Kraft durch das neutrale Photon vermittelt wird, hat die
schwache Kraft sowohl ein neutrales als auch zwei geladene Trägerteilchen, die
sogenannten Z- und W-Bosonen. Bei hohen Kollisionsenergien zeigen die H1- und
ZEUS-Daten, dass sich beide Kräfte absolut gleich verhalten – ein deutlicher
Hinweis auf die elektroschwache Vereinigung.
"Durch die Kombination der Messungen von beiden Detektoren erreichen wir die
höchstmögliche Präzision unserer Ergebnisse", erläutert H1-Sprecher Stefan
Schmitt vom DESY. "Die kombinierten Daten profitieren nicht nur von der
verbesserten Statistik, sondern auch von einem besseren Verständnis jeder
einzelnen Messung und von der Interkalibration, die sich dadurch ergibt, dass
beide Wissenschaftlergruppen unterschiedliche Detektoren und experimentelle
Techniken für ihre Messungen nutzten."
Allerdings ist die Kombination der Daten aus genau diesem Grund enorm aufwendig
- sie wurden von unterschiedlichen Teilchendetektoren aufgezeichnet, mit
verschiedenen Techniken analysiert und über einem Zeitraum von 15 Jahren
gesammelt. "Jeder der Datenpunkte hat bis zu 20 Unsicherheitsquellen, und bei
der Kombination der Daten kann jede der 20 Quellen mit den Unsicherheiten des
nächsten Datenpunktes in Beziehung gebracht werden, und alle diese Beziehungen
müssen verstanden werden", erklärt ZEUS-Sprecher Matthew Wing vom University
College London.
Bereits im Jahr 2009 veröffentlichten H1 und ZEUS eine gemeinsame Arbeit über
die Struktur des Protons, das allerdings nur auf den Daten des HERA-Betriebs bis
zum Jahr 2000 basiert. Mit 600 Zitierungen bis heute ist es eine der am
häufigsten zitierten Publikationen auf diesem Gebiet. Die jetzt erschienene
Veröffentlichung basiert auf der vierfachen Anzahl an Teilchenkollisionen und
enthält auch Daten aus einem speziellen Betrieb von HERA bei unterschiedlichen
Teilchenenergien.
Dennoch hinterlassen die Daten auch immer noch Rätsel bei der Überprüfung des
Standardmodells der Teilchenphysik. "Besonders bei einem niedrigen
Energieübertrag zwischen Elektron und Proton kann die als Bezugstheorie
verwendete Quantenchromodynamik unsere Messungen nicht ausreichend beschreiben",
sagt Wing. "Das wird auf alle Fälle etwas sein, auf das Theoretiker und
Phänomenologen in Zukunft ein Auge werfen sollten."
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