Das erste Neutrino von einem zerrissenen Stern
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Deutschen Elektronen-Synchrotrons DESY astronews.com
23. Februar 2021
Erstmals ist es gelungen, ein Neutrino nachzuweisen, das mit
hoher Wahrscheinlichkeit durch die Zerstörung eines Sterns in der Nähe eines
supermassereichen Schwarzen Lochs beschleunigt wurde. Das Ereignis konnte mit
ganz verschiedenen Observatorien nachgewiesen werden und zeigt das Potenzial der
Multi-Messenger-Astronomie.

Zerrissen von einem Schwarzen Loch: Rund die
Hälfte der Trümmer des zerrissenen Sterns wurden
gleich wieder ins All zurückgeschleudert, während
der Rest eine hell strahlende Akkretionsscheibe
um das zentrale supermassereiche Schwarze Loch
gebildet hat.
Bild: DESY, Science Communication Lab [Großansicht] |
Ein geisterhaftes Elementarteilchen aus einem zerrissenen Stern hat ein
internationales Forschungsteam auf die Spur eines gigantischen kosmischen
Teilchenbeschleunigers gebracht: Das sogenannte Neutrino ließ sich zu einem
supermassereichen Schwarzen Loch in einer fernen Galaxie zurückverfolgen, dem
der Stern zu nahe gekommen und dann von dessen kolossaler Schwerkraft zerstört
worden war.
Es handelt sich um das erste Teilchen, das mit einer derartigen
Gezeitenkatastrophe (im Englischen "Tidal Disruption Event") verknüpft werden
konnte. Die Beobachtung belegt, dass diese wenig verstandenen kosmischen
Katastrophen energiereiche Teilchenbeschleuniger antreiben könnten. Die Arbeit
zeigt auch das Potenzial der sogenannten Multi-Messenger-Astronomie, also der
Beobachtung des Kosmos mit Hilfe verschiedener Boten wie Photonen
(Lichtteilchen) und Neutrinos.
Das Neutrino hatte seine Reise vor rund 700 Millionen Jahren begonnen, in
etwa zu der Zeit, als die ersten Tiere sich auf der Erde entwickelten. So lang
dauerte der Flug von der namenlosen Galaxie mit der Katalognummer 2MASX
J20570298+1412165 im Sternbild Delfin. Die Masse des gigantischen Schwarzen
Lochs im Zentrum der Galaxie schätzen die Forscherinnen und Forscher auf die von
rund 30 Millionen Sonnen.
"Die Schwerkraft wird stärker und stärker, je näher
man einem Objekt kommt. Das bedeutet auch, dass das Schwarze Loch an der etwas
näheren Vorderseite des Sterns stärker gezogen hat als an seiner etwas weiter
entfernten Rückseite", erläutert Robert Stein vom Deutschen
Elektronen-Synchrotrons DESY. "Die Differenz, die den Stern gedehnt hat, heißt
Gezeitenkraft, und je näher der Stern dem Schwarzen Loch kommt, desto extremer
wird er in die Länge gezogen. Irgendwann reißt es den Stern auseinander, dann
haben wir eine Gezeitenkatastrophe. Es ist im Prinzip derselbe Prozess, der auf
der Erde für Ebbe und Flut sorgt, aber zum Glück für uns zieht der Mond nicht
stark genug an der Erde, um sie auseinanderzureißen."
Rund die Hälfte der Sternmaterie in der fernen Galaxie wurde nach der
Gezeitenkatastrophe direkt ins All geschleudert, der Rest sammelte sich auf
einer wirbelnden Scheibe um das Schwarze Loch. Diese sogenannte
Akkretionsscheibe ähnelt dem Strudel über dem Abfluss einer Badewanne. Bevor die
Materie daraus auf Nimmerwiedersehen im Schwarzen Loch verschwindet, wird sie
heißer und heißer und leuchtet schließlich gleißend hell auf.
Dieses Leuchten hat das Observatorium Zwicky Transient Facility
(ZTF) auf dem kalifornischen Mount Palomar am 9. April 2019 zuerst entdeckt. Ein
halbes Jahr später, am 1. Oktober 2019, registrierte das unterirdische
Neutrinoteleskop IceCube im ewigen Eis des Südpols ein extrem
energiereiches Neutrino aus der Richtung der Gezeitenkatastrophe. "Das Teilchen
war in das Antarktische Eis mit einer bemerkenswerten Energie von mehr als 100
Tera-Elektronenvolt gerauscht", berichtet die ehemalige DESY-Forscherin Anna
Franckowiak, die heute als Professorin an der Universität Bochum arbeitet. "Zum
Vergleich: Das ist mindestens die zehnfache Teilchenenergie, die der größte
Teilchenbeschleuniger der Erde erreichen kann, der Large Hadron Collider
am europäischen Kernforschungszentrum CERN bei Genf."
Die extrem leichtgewichtigen Neutrinos wechselwirken fast nie und fliegen
mühelos durch Wände und sogar ganze Planeten oder Sterne, ohne eine Spur zu
hinterlassen. Daher werden sie auch als Geisterteilchen bezeichnet, und bereits
der Nachweis eines einzigen energiereichen Neutrinos ist eine bemerkenswerte
Beobachtung. Die Auswertung zeigt dabei lediglich eine Wahrscheinlichkeit von
eins zu 500, dass dieses spezielle Neutrino nur zufällig aus der Richtung der
Gezeitenkatastrophe gekommen ist.
Die Beobachtung rief weitere Teams auf den Plan, die das Ereignis mit
zahlreichen Instrumenten quer durch das elektromagnetische Spektrum
untersuchten, von Radiowellen bis Röntgenstrahlen. "Es ist das erste Neutrino
von einer Gezeitenkatastrophe, und es liefert uns wertvolle Hinweise", erläutert
Stein. "Gezeitenkatastrophen sind bislang wenig verstanden. Der Neutrino-Fund
weist auf die Existenz einer zentralen, mächtigen Maschinerie nahe der
Akkretionsscheibe, die schnelle Teilchen ausspuckt. Und die kombinierte Analyse
der Daten der Radio-, optischen und Ultraviolett-Teleskope belegt zusätzlich,
dass Gezeitenkatastrophen als gigantische Teilchenbeschleuniger funktionieren
können."
Die Beobachtungen lassen sich dabei am besten mit einem Modell erklären, wie
es der Leiter der theoretischen Astroteilchenphysik bei DESY, Walter Winter, und
seine Kollegin Cecilia Lunardini von der Arizona State University in
einer separaten Studie entwickelt haben: Dabei bilden sich energiereiche Ströme
von Materie, die nach oben und unten aus dem System schießen. "Das Neutrino ist
relativ spät aufgetaucht, ein halbes Jahr nachdem das Sternenmahl des Schwarzen
Lochs begonnen hatte", erläutert Winter. "Unser Modell erklärt diesen zeitlichen
Ablauf auf natürliche Weise."
Der kosmische Beschleuniger spuckt demnach verschiedene Arten Teilchen aus,
abgesehen von Neutrinos und Photonen sind diese jedoch alle elektrisch geladen
und werden daher von intergalaktischen Magnetfeldern auf ihrer Reise durchs All
abgelenkt. Nur die elektrisch neutralen Neutrinos können wie das Licht
(Photonen) auf einer geraden Linie von der Quelle zur Erde reisen und lassen
sich zurückverfolgen. Sie sind damit wertvolle Boten aus derartigen Systemen.
"Die kombinierten Beobachtungen demonstrieren die Stärke der
Multi-Messenger-Astronomie", betont Team-Mitglied Marek Kowalski, Leiter der
Neutrino-Astronomie bei DESY und Professor an der Humboldt-Universität zu
Berlin. "Ohne den Nachweis der Gezeitenkatastrophe wäre das Neutrino nur eines
von vielen, und ohne das Neutrino wäre die Beobachtung der Gezeitenkatastrophe
nur eine von vielen. Nur durch die Kombination von beidem konnten wir den
kosmischen Teilchenbeschleuniger aufspüren und etwas über die Prozesse in seinem
Inneren lernen." Die Verbindung zwischen dem energiereichen Neutrino und der
Gezeitenkatastrophe war durch ein Computerprogramm namens AMPEL aufgespürt
worden, das bei DESY speziell für den Abgleich von ZTF- und IceCube-Beobachtungen
entwickelt worden war.
Die Zwicky Transient Facility ist darauf ausgelegt, Hunderttausende
Sterne und Galaxien in einer einzigen Aufnahme zu beobachten und den Nachthimmel
besonders schnell zu durchsuchen. Dank seines großen Gesichtsfelds kann das
1,3-Meter-Samuel-Oschin-Teleskops der ZTF den kompletten Nachthimmel in nur drei
Nächten komplett beobachten und so deutlich mehr plötzlich aufleuchtende oder in
der Helligkeit schwankende Objekte aufspüren als alle optischen Durchmusterungen
zuvor.
"Seit Beginn der Untersuchungen im Jahr 2018 haben wir mehr als 30
Gezeitenkatastrophen aufgespürt und damit die Zahl der bekannten derartigen
Phänomene mehr als verdoppelt, erzählt Sjoert van Velzen vom Observatorium
Leiden in den Niederlanden. "Als wir feststellten, dass die zweithellste
Gezeitenkatastrophe, die wir beobachtet haben, auch die Quelle eines von
IceCube registrierten energiereichen Neutrinos ist, waren wir begeistert!"
"Wir sehen hier vielleicht erst die Spitze des Eisbergs, künftig erwarten wir
viele weitere solcher Verbindungen zwischen energiereichen Neutrinos und ihren
Quellen", betont IceCube-Chefwissenschaftler Francis Halzen, Professor
an der Universität von Wisconsin-Madison, der nicht an der Studie beteiligt war.
"Es wird gerade eine neue Generation von Teleskopen gebaut, die eine höhere
Empfindlichkeit für Gezeitenkatastrophen und andere vermutliche Neutrinoquellen
bieten. Noch wichtiger ist der geplante Ausbau des IceCube-Neutrinodetektors,
wodurch sich die Zahl der beobachteten kosmischen Neutrinos mindestens
verzehnfachen dürfte."
Die Gezeitenkatastrophe ist erst die zweite Quelle, die einem kosmischen
Neutrino zugeordnet werden konnte. 2018 hatte eine
Multi-Messenger-Beobachtungskampagne die Aktive Galaxie mit der Katalognummer
TXS 0506+056 als Quelle eines energiereichen Neutrinos identifiziert, das von
IceCube 2017 aufgezeichnet worden war.
Über ihre Beobachtungen berichtet das Team in zwei Fachartikeln, die in der
Zeitschrift Nature Astronomy erschienen sind.
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