Komplexe Plasmen im Fokus
Redaktion
/ Pressemitteilung des DLR astronews.com
30. Oktober 2014
Mit dem Progress-Raumfrachter, der gestern zur
Internationalen Raumstation ISS gestartet ist und diese rund sechs Stunden
später erreichte, gelangte auch ein neues Experiment zur Plasmaforschung auf die
Raumstation. Im Rahmen der russisch-deutschen Kooperation sollen vor allem
komplexe Plasmen untersucht werden, was auf der Erde nicht so ohne weiteres
möglich ist.
Die neue ISS-Experimentanlage "PK-4" kann
komplexe Plasmakristalle mittels einer
Gleichstrom-Entladung mit etwa 800 Volt in einer
mit einem Edelgas gefüllten Glasröhre entstehen
lassen - im Prinzip eine Neonröhre als
Versuchsreaktor.
Foto: MPE [Großansicht] |
Es gewittert, es blitzt und plötzlich entsteht es - Plasma. Ein ionisiertes
Gas, das auf der Erde sonst selten auftritt. Nur der Blick zum Plasmaball Sonne
verrät seine natürliche Umgebung, den Weltraum. Es kann auch künstlich
hergestellt werden und wird besonders im technischen Bereich genutzt, etwa in
Plasmafernsehern oder Leuchtstoffröhren. Künftig sind auch Anwendungen in der
Medizin, im Umweltschutz und vielen anderen Bereichen denkbar.
Zur Erforschung von Eigenschaften und Verhalten von einem sehr speziellen,
dem komplexen Plasma, haben bisher mehr als 30 Kosmonauten und Astronauten
Plasmakristall-Experimente im Weltall durchgeführt. Die Forschungsgruppe
Komplexe Plasmen des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) plant nun
eine neue Experimentreihe: Am 29. Oktober 2014 startete in Baikonur ein
Progress-Raumfrachter mit dem Plasmakristall-Labor "PK-4" zur
Internationalen Raumstation ISS.
"Seit zwölf Jahren arbeitet unsere Gruppe am PK-4-Projekt zusammen mit
unserem russischen Partnerinstitut. Nach dieser langen Vorentwicklungs-,
Design-, Fertigungs- und Qualifikationsphase kommt jetzt endlich die lang
ersehnte wissenschaftliche Phase. Für unsere Forschungsgruppe und unsere
zukünftige Entwicklung wird das ein Meilenstein", so Dr. Hubertus Thomas, Leiter
der Forschungsgruppe Komplexe Plasmen am DLR. PK-4 ist insgesamt das dritte
Plasmakristall-Labor, welches an Bord der ISS zum Einsatz kommt. Geplant ist ein
Betrieb von mindestens vier Jahren.
Plasma ist elektrisch neutral geladenes Gas und neben fest, flüssig und
gasförmig der vierte Zustand der Materie. Es ist auch der ungeordnetste Zustand.
Die Erkenntnis, dass sich im Plasma geordnete Strukturen, sogenannte
Plasmakristalle, bilden können, veränderte 1994 das Bild der Physik.
Plasmakristalle entstehen, wenn in einem geladenen Gas zusätzlich Staubpartikel
oder andere Mikropartikel enthalten sind.
Die Besonderheit: Die nur wenige Mikrometer kleinen Plasmateilchen besitzen
eine vergleichsweise hohe Masse. Jede Veränderung geschieht verlangsamt - wie in
Zeitlupe. So lässt sich sogar die Bewegung einzelner Partikel beobachten.
Komplexe Plasmen sind damit ideale Modellsysteme zur Erforschung von dynamischen
Vorgängen in der Materie, bei denen die Staubteilchen Atome oder Moleküle
repräsentieren. Mit jedem Experiment gewinnen Dr. Hubertus Thomas und seine
Kollegen neue und einzigartige Erkenntnisse.
Auf der Erde können komplexe Plasmen im Wesentlichen nur auf
zweidimensionaler Ebene untersucht werden: Die Partikel breiten sich im
Schwerefeld nicht homogen aus, sondern sinken ab und stauchen das System in
Richtung der Schwerkraft. Erst in der Schwerelosigkeit wird sichtbar, wie die
Plasmateilchen sich im Raum verhalten und sich gegenseitig beeinflussen.
Mit der neuen Anlage wollen die Wissenschaftler gezielt der flüssigen Phase
von komplexen Plasmen auf den Grund gehen. Im Fokus steht dabei die Erforschung
von Selbstorganisation, Turbulenzerscheinungen, die Bestimmung von Grenzen von
Nanoflüssigkeiten sowie die Untersuchung des Beginns von kollektiven Effekten in
stark gekoppelten Systemen.
Die Forschungsgruppe Komplexe Plasmen ist die jüngste Forschungseinheit des
DLR. Dabei blickt sie bereits auf rund 20 Jahre Erfahrung zurück, erarbeitet am
Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik (MPE). Den Start der
Trägerrakete mit der wertvollen Ladung verfolgte das 20-köpfige Team rund um
Thomas von ihrer neuen Forschungsheimat aus, in Oberpfaffenhofen. Mit der
Eingliederung in das DLR wurde die Fortführung der erfolgreichen Plasmaforschung
auf der ISS sichergestellt.
Das PK-4-Labor ist eine europäisch-russische Kooperation, finanziert durch
die europäische Weltraumorganisation ESA und die russische Raumfahrtbehörde
ROSKOSMOS. Die russische Seite, wissenschaftlich beteiligt über das Joint
Institute for High Temperatures (JIHT), ist zuständig für den Transport des
Labors, den Transport der Videodaten zurück zur Erde und stellt die Crew-Zeit.
Auch die Entwicklung des PK-4-Labors wurde in engem Kontakt zum JIHT
durchgeführt. Die experimentelle Hardware ist eine Eigenentwicklung der
Forschungsgruppe (ehemals MPE) in Zusammenarbeit mit dem MPE und der OHB System
AG (vormals Kayser-Threde GmbH), die auch für die Infrastruktur von PK-4
zuständig war.
Wissenschaftlich beteiligt sind neben dem Kernteam aus Forschungsgruppe und
JIHT auch ein europäisches Team (Frankreich, Italien und Schweden) sowie ein
internationales Team (Japan und USA). Die Ergebnisse der Plasmakristiall-Experimente
auf der ISS erreicht damit die Forschergemeinschaft weltweit.
|