Higgs-Teilchen am LHC entdeckt?
von Stefan Deiters astronews.com
4. Juli 2012
In einem mit Spannung erwarteten Seminar am europäischen
Teilchenlaboratorium CERN in Genf präsentierten Wissenschaftler heute Morgen die
jüngsten Ergebnisse der Experimente ATLAS und CMS am Teilchenbeschleuniger
Large Hadron Collider (LHC). Mit beiden Experimenten wurden eindeutige
Hinweise auf eine neues Elementarteilchen entdeckt. Ist es das seit langem
gesuchte Higgs-Teilchen?

Simulation des
Zerfalls eines Higgs-Teilchens im CMS-Experiment
am Large Hadron Collider am CERN in Genf.
Bild: CERN |
"Wir sehen in unseren Daten eindeutige Hinweise auf ein neues Teilchen
in einem Massenbereich von rund 126 GeV und dies mit einer statistischen
Signifikanz von fünf Sigma", fasst Fabiola Gionotti, Sprecher des
ATLAS-Experiments am Large Hadron Collider (LHC) des CERN in Genf die
Resultate zusammen. Bei einer solchen Signifikanz ist die Wahrscheinlichkeit,
dass es sich bei dem Resultat um ein zufälliges Ereignis handelt, kleiner als
eins zu eine Million. "Die herausragende Leistung des LHC und von ATLAS sowie
die großen Anstrengungen der vielen Beteiligten hat uns an diese so wichtige
Stelle geführt. Wir brauchen aber noch etwas mehr Zeit, um die Resultate für
eine Veröffentlichung vorzubereiten."
Auch mit CMS, einem zweiten LHC-Experiment, fanden sich Hinweise auf ein
neues Teilchen: "Die Ergebnisse sind zwar noch vorläufig, aber das von uns
entdeckte Fünf-Sigma-Signal bei ungefähr 125 GeV ist schon sehr dramatisch", so
CMS-Sprecher Joe Incandela. "Das ist auf jeden Fall ein neues Teilchen. Wir
wissen, dass es sich um ein Boson handeln muss und zwar um das massereichste,
das je entdeckt wurde. Die Entdeckung dürfte weitreichende Folgen haben, weshalb
wir sehr sorgfältig bei unseren Untersuchungen sein und alles gründlich
überprüfen müssen."
Mit den Experimenten ATLAS und CMS am Large Hadron Collider (LHC)
des CERN suchen die Wissenschaftler nicht nach dem Higgs-Teilchen selbst,
sondern nach bestimmten Zerfallsprodukten dieses vermuteten und nur sehr
kurzlebigen Partikels. Dazu analysieren die Forscher verschiedene mögliche
Zerfallsketten, die entstehen, wenn Partikel in dem Beschleunigerring mit hoher
Geschwindigkeit aufeinanderprallen.
Das jetzt entdeckte Signal deutet auf ein bislang unbekanntes Teilchen in
einem Massenbereich von 125 bis 126 GeV hin, also genau in dem Bereich, in dem
das Higgs-Teilchen vermutet wird. In der Teilchenphysik wird die Masse von
Elementarteilchen meist - entsprechend der berühmten Einsteinformel "Energie ist
gleich Masse mal dem Quadrat der Lichtgeschwindigkeit" - als Energieäquivalent
in Elektronenvolt (eV) bzw. in Giga-Elektronenvolt (eine Milliarde
Elektronenvolt) angegeben.
"Es fällt schwer, nicht begeistert über diese Ergebnisse zu sein", meint auch
Sergio Bertolucci, der Forschungsdirektor des CERN. "Wir haben letztes Jahr
gesagt, dass wir 2012 entweder ein neues Higgs-ähnliches Teilchen finden, oder
aber zeigen können, dass das Higgs-Teilchen aus dem Standardmodell nicht
existiert."
Dieses Standardmodell beschreibt den fundamentalen Aufbau der Materie
eigentlich sehr gut. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Das Modell kann nicht
erklären, warum die Elementarteilchen eine Masse haben. Um diese Lücke im
Standardmodell zu schließen, entwickelten Wissenschaftler um den schottischen
Physiker Peter Higgs 1964 einen Mechanismus, nach dem das Universum von einem
sogenannten Higgs-Feld durchzogen ist. Man kann es sich wie eine Art Sirup
vorstellen, der die Elementarteilchen abbremst und ihnen dadurch Masse verleiht.
Die zu diesem Feld gehörenden Teilchen wären die gesuchten Higgs-Teilchen.
Die jetzt vorgestellten Ergebnisse werden von den Forschern noch als
vorläufig bezeichnet. Sie basieren auf Daten von Teilchenkollisionen aus den
Jahren 2011 und 2012, wobei die Analyse der Daten aus diesem Jahr noch nicht
abgeschlossen ist. Zusätzliche, im Laufe des Jahres zur Verfügung stehende Daten
sollten dann weitere Klarheit über die Bedeutung der heute vorgestellten
Resultate bringen.
Die Wissenschaftler müssen nämlich jetzt herausfinden, was für ein Teilchen
sie da eigentlich entdeckt haben. Es könnte sich tatsächlich um das lange
gesuchte Higgs-Teilchen handeln. Dazu müssten seine Eigenschaften mit denen
übereinstimmen, die man vom Higgs-Teilchen erwarten würde. Es könnte allerdings
auch eine exotischere Variante des Higgs-Teilchens sein. Diese könnte den
Forschern dann eventuell sogar Hinweise darauf liefern, um was es sich bei der
mysteriösen Dunklen Materie und der Dunklen Energie eigentlich handelt.
"Wir haben einen Meilenstein erreicht", so Rolf Heuer, der Generaldirektor
des CERN. "Die Entdeckung eines Partikels, bei dem es sich um das Higgs-Boson
handeln könnte, bietet uns nun die Chance für detailliertere Untersuchungen.
Dazu benötigt man eine bessere Statistik, mit der man die Eigenschaften des
neuen Teilchen weiter eingrenzen kann. Dies wird sehr wahrscheinlich auch ein
neues Licht auf andere Geheimnisse des Universums werfen."
Die heutige Entdeckung ist somit ein wichtiger Schritt zu einem besseren
Verständnis des fundamentalen Aufbaus der Materie. Bis sich die Forscher aber
sicher sind, ob sie es tatsächlich mit dem lange gesuchten Higgs-Teilchen zu tun
haben oder mit etwas vielleicht noch Aufregenderem, dürfte noch einige Zeit
vergehen. Es bleibt also spannend.
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