Physiker kreisen Higgs-Teilchen ein
von Stefan Deiters astronews.com
13. Dezember 2011
Auf einem Seminar am europäischen Teilchenforschungszentrum
CERN in Genf präsentierten Physiker, die an den LHC-Experimenten ATLAS und CMS
beteiligt sind, heute den aktuellen Stand bei der Suche nach dem Higgs-Teilchen.
Sie berichteten von deutlichen Fortschritten, erwarten ein endgültiges Ergebnis
allerdings erst im Laufe des kommenden Jahres.
Simulation des
Zerfalls eines Higgs-Teilchens im CMS-Experiment
am Large Hadron Collider am CERN in Genf.
Bild: CERN |
Die heute auf einem Seminar am Genfer Teilchenforschungszentrum CERN
vorgestellte Auswertung basiert zwar auf deutlich mehr Daten als frühere
Analysen, lässt aber noch immer keine endgültige Aussage über das langgesuchte
Higgs-Teilchen zu, das elementar für das Standardmodell der Teilchenphysiker
ist. Es scheint allerdings sicher zu sein, dass das Higgs-Teilchen - wenn es
denn existiert - im Massenbereich zwischen 116 und 130 GeV beim ATLAS-Experiment
und 115 und 127 GeV beim CMS-Experiment zu finden sein sollte. Physiker geben
die Masse von Elementarteilchen meist - entsprechend der berühmten
Einsteinformel "Energie ist gleich Masse mal dem Quadrat der
Lichtgeschwindigkeit" - als Energieäquivalent in Elektronenvolt (eV) bzw. in
Giga-Elektronenvolt (eine Milliarde Elektronenvolt) an.
Mit den Experimenten ATLAS und CMS am Large Hadron Collider (LHC)
des CERN wird nicht nach dem Higgs-Teilchen selbst gesucht, sondern nach
bestimmten Zerfallsprodukten dieses vermuteten und nur sehr kurzlebigen
Partikels. Dazu werden verschiedene mögliche Zerfallsketten untersucht. Bei
beiden Experimenten ergab sich nun in einem bestimmten Massenbereich ein Signal,
das auf das Higgs-Teilchen hinweisen könnte.
Für sich genommen sind die Signale noch nicht sonderlich aussagekräftig: Das
Würfeln von zwei Sechsen hintereinander ist ungefähr genauso wahrscheinlich, wie
das zufällige Auftreten dieser Signale. Interessant macht die Sache allerdings,
dass es mehrere unabhängige Messungen gibt, die alle auf einen Massenbereich von
124 bis 126 GeV deuten. Und genau diese Tatsache hat für erhebliche Aufregung
unter den Teilchenphysikern gesorgt.
"Wir hatten den wahrscheinlichsten Massebereich für das Higgs-Teilchen auf
116 bis 130 GeV eingeschränkt", erläutert Fabiola Gianotti, die Sprecherin des
ATLAS-Experimentes. "In den letzten Wochen haben wir nun eine Häufung von
Ereignissen im Massenbereich von ungefähr 125 GeV beobachtet. Dabei kann es sich
nur um eine natürliche Fluktuation handeln, oder aber um etwas viel
Interessanteres. Wir können jetzt noch keine endgültigen Schlüsse ziehen. Nötig
sind weitere Untersuchungen und Daten. Wenn man die außerordentliche Leistung
des LHC in diesem Jahr zugrunde legt, sollte es aber nicht lange dauern, bis wir
ausreichend Daten zur Verfügung haben. Im kommenden Jahr können wir uns also auf
die Lösung des Rätsel freuen."
"Wir können die Existenz eines Standardmodell-Higgs-Teilchens zwischen 115
und 127 GeV nicht ausschließen, da wir einen geringen Überschuss an Ereignissen
in diesem Massenbereich in fünf unabhängigen Kanälen haben", ergänzt Guido
Tonelli, der Sprecher des CMS-Experiments. "Dieser Überschuss würde sich gut mit
einem Higgs-Teilchen im Bereich von 124 GeV und darunter vertragen, doch die
statistische Signifikanz ist noch nicht groß genug, um etwas Abschließendes
sagen zu können." Vom jetzigen Standpunkt aus, so der Physiker weiter, könnte es
sich bloß um eine zufällige Fluktuation oder aber um das Higgs-Teilchen handeln.
"Bessere Analysen und weitere Daten sollten uns aber schon 2012 eine Antwort
liefern."
Die Teilchenphysiker haben sich eine hohe Hürde gesetzt, wann sie einem
Signal in ihren Daten so weit vertrauen wollen, dass sie von einem neuen
Teilchen ausgehen: Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich bei dem Ereignis um eine
zufällige Fluktuation handelt, muss unter eins zu einer Millionen liegen. Das
ist ähnlich wahrscheinlich, wie acht Sechsen hintereinander zu würfeln. Der
jetzt von den LHC-Experimenten abgesuchte Bereich ist der letzte Massenbereich,
in dem sich das Higgs-Teilchen noch "verstecken" könnte. Alle anderen Bereich
waren zuvor schon mit anderen Beschleuniger-Experimenten untersucht worden.
Das Standardmodell der Teilchenphysiker beschreibt den fundamentalen Aufbau
der Materie und das eigentlich sehr gut. Es gibt allerdings eine Ausnahme: Das
Standardmodell kann nicht erklären, warum die Elementarteilchen eine Masse
haben. Um diese Lücke im Standardmodell zu schließen, entwickelten
Wissenschaftler um den schottischen Physiker Peter Higgs 1964 einen Mechanismus,
nach dem das Universum von einem sogenannten Higgs-Feld durchzogen ist. Man kann
es sich wie eine Art Sirup vorstellen, der die Elementarteilchen abbremst und
ihnen dadurch Masse verleiht. Die zu diesem Feld gehörenden Teilchen sind die
gesuchten Higgs-Teilchen.
Bestätigt sich im kommenden Jahr tatsächlich die Existenz des Higgs-Teilchen
ist die Arbeit allerdings längst noch nicht beendet: Dann müssen nämlich die
Eigenschaften dieses Partikels untersucht werden, woraus sich die
Wissenschaftler auch neue Hinweise über den Aufbau der Materie versprechen.
Nicht zuletzt gilt es ja noch immer die Frage zu klären, was es mit der Dunklen
Materie und der Dunklen Energie auf sich hat, die unser Universum dominiert.
Fast noch spannender wäre es allerdings, wenn sich herausstellen sollte, dass
es das Higgs-Teilchen nicht gibt. Dann müssten die Teilchenphysiker ihr
Standardmodell gründlich überdenken. Das Instrument, um die daraus
resultierenden neu entwickelten Theorien zu überprüfen, wäre glücklicherweise
bereits vorhanden: der Large Hadron Collider des CERN.
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