Die Jagd nach theta13
Redaktion
/ Pressemitteilung des Exzellenzclusters Universe astronews.com
8. September 2011
Die lange Zeit rätselhaften Neutrinos geben allmählich ihre
Geheimnisse preis. Ein internationales Team von Wissenschaftlern glaubt nun
sichere Indizien dafür gefunden zu haben, dass auch der letzte von drei
Parametern, die die Oszillation von Neutrinos beschreiben, größer als null ist.
Für die Teilchenphysiker würde die Bestätigung dieses Befunds ganz neue
Perspektiven eröffnen.
Blick in den
Detektor von Double-Chooz.
Foto: Double-Chooz Collaboration |
Neutrinos stecken seit ihrer Entdeckung voller Rätsel. Und bereits von der
theoretischen Vorhersage ihrer Existenz bis zum experimentellen Nachweis 1956
vergingen 26 Jahre. Der Grund dafür ist einfach: Neutrinos interagieren nur über
die schwache Wechselwirkung mit anderen Materieteilchen. Nähert sich ein
kosmisches Neutrino der Erde, hat es beste Chancen, ungehindert und damit
unentdeckt den Planeten zu durchqueren. Entsprechend schwierig ist ein direkter
Nachweis der Neutrinos mit Hilfe eines Detektors.
Mit der experimentellen Entdeckung der Neutrinos begann auch die Diskussion um
ihre Massen: Waren sie massenlos oder hatten sie doch eine, wenn auch nur
geringe Masse? Inzwischen gilt als sicher, dass die "Geisterteilchen"
massebehaftet sind, wenn auch in beinahe verschwindendem Maße: kein Neutrino
dürfte nach heutiger Kenntnis "schwerer" sein als 1 Elektronenvolt (zum
Vergleich: ein Elektron "wiegt" rund 500.000 Elektronenvolt).
Die Physiker unterscheiden drei verschiedene Neutrino-Sorten, die sich im Rahmen
des Standardmodells jeweils einer der drei Teilchenfamilien zuordnen lassen. Das
Wissen um die Neutrino-Masse stammt von zahlreichen Experimenten, in denen so
genannte Neutrino-Oszillationen beobachtet wurden. Frei durch den Raum fliegende
Neutrinos einer bestimmten Familie (etwa das Elektron-Neutrino) können sich
spontan in ein Neutrino von anderer Familienzugehörigkeit (das Myon-Neutrino
oder das Tau-Neutrino) verwandeln. Von einer Oszillation spricht man, weil das
Neutrino seine Familienzugehörigkeit während einer ausgedehnten Reise periodisch
wechseln kann. Möglich sind solche Oszillationen aber nur, wenn die Teilchen
eine Masse haben.
Der experimentelle Nachweis der Neutrino-Oszillationen (und damit einer von null
verschiedenen Neutrino-Masse) gehört zu den großen Durchbrüchen der modernen
Teilchenphysik in den vergangenen 20 Jahren. Die Übergänge zwischen den
unterschiedlichen Neutrino-Familien hängen von den drei so genannten
Mischungswinkeln theta12, theta23 und theta13 ab. Sie und die Unterschiede in
den Teilchenmassen bestimmen, wie häufig Übergänge zwischen den einzelnen
Familien zu erwarten sind. Zwei der Mischungswinkel sind bereits bekannt, der
Wert des verbleibenden dritten, theta13, ist derzeit Gegenstand der Forschung (astronews.com
berichtete).
Bekannt war bisher lediglich, dass es sich um einen kleinen Wert handeln sollte,
verglichen mit den beiden anderen; insbesondere konnte theta-13 gleich null
nicht ausgeschlossen werden. Bereits mehrere unabhängige Projekte gingen in der
Vergangenheit daran, den schwer zu bändigenden Parameter zu bestimmen - ohne
Erfolg. Dem Chooz-Experiment in Frankreich gelang es 1998 immerhin eine
obere Grenze anzugeben: die Forscher konnten damals zeigen, dass die von
theta-13 verursachte Schwingung nicht größer als etwa ein Zehntel der beiden
anderen Mischungsparameter sein kann.
Vor drei Jahren gelang einer Gruppe theoretischer Physiker, darunter Antonio
Palazzo, heute am Exzellenzcluster Universe, ein weiterer wichtiger
Schritt: Zusammen mit seinen damaligen Kollegen an der Universität und am INFN
Bari (Italien) konnte Palazzo die ersten Hinweise auf einen endlichen Wert von
theta13 ausmachen. Grundlage für dieses Ergebnis war eine genaue Analyse aller
bis dahin verfügbaren experimentellen Daten zur Neutrino-Oszillation. Mit den
Experimenten MINOS und T2K (Tokai to Kamioka) konnten Wissenschaftler
den Wert in der Zwischenzeit weiter eingrenzen. Auch hier deutet alles auf einen
endlichen Wert von theta13 hin; die Theoretiker sehen sich damit bestätigt.
Inzwischen haben die gleichen Wissenschaftler eine statistische Auswertung
durchgeführt, in die sowohl ihre neuen Daten als auch frühere Ergebnisse des
T2K- und des MINOS-Experiments eingeflossen sind. Danach beträgt die
Wahrscheinlichkeit, dass theta13 gleich null ist, nur noch 1:400. Die Analyse
wird in Kürze in der Fachzeitschrift Physical Review D erscheinen.
Doch auch dieser Wert ist den Physikern noch zu unsicher: Ihr Ziel ist es, die
Wahrscheinlichkeit, das theta13 gleich null ist, auf mindestens 1:1 Millionen zu
reduzieren. Aus diesem Grund starten die Forscher nun weitere Projekte. Eine
wesentliche Rolle wird dabei das Reaktor-Experiment Double-Chooz
spielen, an dem Physiker des Universe Clusters maßgeblich beteiligt
sind (astronews.com berichtete). Mit Hilfe des Antineutrino-Flusses des
Atomkraftwerks in der französischen Gemeinde Chooz soll der Wert von theta13 mit
bisher unerreichter Genauigkeit gemessen werden.
Das Prinzip des Double-Chooz-Experiments ist denkbar einfach:
Unmittelbar nach ihrer Erzeugung im Reaktor trifft ein Teil der Antineutrinos
auf einen nur 400 Meter entfernt gelegenen Detektor. Die räumliche Nähe stellt
sicher, dass es zwischen Emission und erster Detektion zu keinen (oder nur
äußerst wenigen) Oszillationen kommt. Der erste Detektor misst daher überwiegend
Elektron-Antineutrinos, die noch keine Zeit hatten, sich in Myon- oder
Tau-Antineutrinos zu verwandeln. Ein zweiter Detektor von identischer Bauweise
liegt etwa 1.050 Meter vom Reaktor entfernt. Wenn der Wert des Mischungswinkels
theta13 groß genug ist, wird ein Teil der Elektron-Antineutrinos zu Myon- oder
Tau-Antineutrinos. Damit wäre die am zweiten Detektor gemessene
Elektron-Antineutrino-Rate deutlich geringer, als dies ohne Oszillationen zu
erwarten wäre.
Beide Detektoren sind mit etwa 10 Tonnen einer Szintillationsflüssigkeit
gefüllt. Tritt ein Elektron-Antineutrino in Wechselwirkung mit einem Proton
innerhalb der Flüssigkeit, kommt es zum inversen Beta-Zerfall: Das
Elektron-Antineutrino wird von einem Proton eingefangen, das sich unter Emission
eines Positrons in ein Neutron umwandelt. Beide Teilchen erzeugen in der
Flüssigkeit kurze Blitze, die einem festgelegten Zeitintervall folgen. 390 Photo-Sensoren
an den Gefäßwänden registrieren die Geschehnisse. Das Double-Chooz-Experiment
läuft seit April 2011 und hält in den kommenden fünf Jahren nach entsprechenden
Signalen Ausschau.
Im Rahmen der in dieser Woche in München stattfindenden Konferenz Topics in
Astroparticle and Underground Physics wurde ausführlich über den Status des
Experiments berichtet. Erste Ergebnisse werden zum Ende des Jahres erwartet.
Sollte sich die Hypothese, dass theta13 wie die anderen Mischungswinkel größer
null ist, bestätigen, hätten Neutrinos die größtmöglichen Freiheitsgrade, von
einer Familie zur nächsten zu wechseln. Das würde den Forschern interessante
Perspektiven eröffnen und könnte beispielsweise klären helfen, wieso es im
frühen Universum einen minimalen Überschuss von Materie gegenüber Antimaterie
gegeben hat. Ohne diese Asymmetrie hätte sich alle Materie kurz nach dem Urknall
in Strahlung verwandelt und das Weltall wie wir es kennen, hätte gar nicht
entstehen können.
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