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Eine Verschmelzung namens Pontus
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astronomie astronews.com
18. Februar 2022
Astronominnen und Astronomen haben auf Grundlage von Daten
der Astrometriemission Gaia einen Atlas der Verschmelzungen kleinerer
Galaxien mit der Milchstraße erstellt. Dazu werteten sie Informationen zu 257
Sternströmen, Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien statistisch aus. Dabei
entdeckten sie auch eine zuvor unbekannte Verschmelzung.

Die Milchstraße und die Sternströme (farbige
Punkte), Kugelsternhaufen (Sternsymbole) und
Zwerggalaxien (kleine Würfel), die Khyati Malhan
und sein Team nutzte, um einen Atlas von
Verschmelzungen mit unserer Heimatgalaxie zu
erstellen.
Bild: S. Payne-Wardenaar / K. Malhan,
MPIA [Großansicht] |
Auf künstlerischen Darstellungen der Milchstraße - "echte" Bilder davon gibt
es verständlicherweise nicht - sieht unsere Heimatgalaxie wie eine leuchtende
Scheibe aus Sternen aus. Einige davon bilden ein Muster wirbelnder Spiralarme.
Weniger auffällig, aber dennoch interessant, ist der stellare Halo unserer
Galaxie: eine riesige kugelförmige Region aus Sternen, die die gesamte
galaktische Scheibe samt umliegender Regionen umgibt.
Nach unserem derzeitigen Wissen zur Entstehung und Entwicklung der
Milchstraße finden sich in diesem Halo die ältesten Sterne in unserer Galaxie.
Der stellare Halo ist dabei so etwas wie ein Archiv der Wechselwirkungen unserer
Heimatgalaxie mit ihrer Umgebung. Von Zeit zu Zeit kommt eine kleinere Galaxie
der Milchstraße so nahe, dass die Schwerkraft unserer Heimatgalaxie sie
einfängt. Die Schwerkraft unserer eigenen Galaxie wirkt dabei stärker auf
diejenigen Teile der eingefangenen Galaxie, die uns näher sind, und schwächer
auf diejenigen Teile, die weiter entfernt sind. Durch dieses ungleiche Ziehen
wird die eingefangene Galaxie zu einem länglichen Strom von Sternen und Gas
auseinandergezogen, der als Sternstrom bezeichnet wird. Dieser Sternstrom
umkreist dann weiterhin den Halo, auch wenn sich seine Sterne im Laufe der
kommenden Milliarden Jahre immer mehr verlaufen.
Weitere Bestandteile der kleineren Galaxie dürften ebenfalls in unserem Halo
erhalten geblieben sein. In Galaxien befinden sich sogenannte Kugelsternhaufen:
kompakte Haufen von (meist älteren) Sternen, die durch ihre gegenseitige
Schwerkraft stark aneinander gebunden sind. Außerdem werden Galaxien
normalerweise von noch kleineren Satellitengalaxien umkreist. Kugelsternhaufen
und Satellitengalaxien einer kleineren Galaxie, die mit der Milchstraße
verschmolzen ist, landen ebenfalls im Halo der Milchstraße.
Die jetzt vorgestellte Studie unter der Leitung von Khyati Malhan, einem
Postdoktoranden am Max-Planck-Institut für Astronomie (MPIA), ist ein
ehrgeiziger Versuch, Daten über Sternströme, Kugelsternhaufen und
Satellitengalaxien zusammenzuführen, um auf diese Weise einen umfassenden
"Verschmelzungsatlas" für die Milchstraße zu erstellen: eine Karte, die zeigt,
welche der sichtbaren Objekte Überbleibsel welcher Verschmelzungen sind, die
unsere Heimatgalaxie durchgemacht hat.
Die Analyse war nur möglich, weil vor Kurzem ein einzigartiger Datensatz
verfügbar wurde: die Vorab-Version des Data Release 3 der Gaia-Mission
der ESA. Die 2013 gestartete Gaia-Mission, deren erste Daten 2016 veröffentlicht
wurden, liefert sogenannte astrometrische Daten für mehr als eine Milliarde
Sterne, vor allem sehr genaue Positionen sowie Informationen über die
Veränderungen der Sternpositionen am Himmel mit der Zeit, also die Eigenbewegung
der Sterne. Mithilfe der Gaia-Daten konnte die Zahl der bekannten Sternströme
bereits von etwa 25 auf rund 50 verdoppelt werden.
Sternströme sind am Nachthimmel nicht ohne Weiteres zu erkennen. Schaut man
sich Bilder von Himmelsregionen an, auf denen die Sterne eines Sternstroms mit
zu sehen sind, ist ohne eine weitergehende Analyse oft gar nicht zu erkennen,
dass dort ein Sternstrom vorhanden ist. Aber die Daten von Gaia für die
Eigenbewegung von Milliarden von Sternen am Himmel, die in der zweiten
Datenfreigabe durch so genannte Radialgeschwindigkeitsmessungen für sieben
Millionen Sterne ergänzt wurden (ein Maß für die Bewegung eines Sterns auf uns
zu oder von uns weg), ermöglichen die Rekonstruktion der Bewegung von Sternen.
Zudem sind nahe beieinander liegende Sterne, die sich außerdem in etwa in die
gleiche Richtung bewegen, ein verräterisches Indiz dafür, dass jene Sterne Teil
ein und desselben Sternstroms sind.
Die Arbeit von Malhan und seinen Kolleginnen und Kollegen nutzt Gaia-Daten
nicht für einzelne Sterne, sondern um die Bewegung der Sternströme,
Kugelsternhaufen und Satellitengalaxien im stellaren Halo zu rekonstruieren. Die
Forschenden fanden die notwendigen Daten mit der für ihre Rekonstruktion
erforderlichen Genauigkeit in der Vorab-Version des Data Release 3 der
Gaia-Mission, die am 3. Dezember 2020 veröffentlicht wurde.
Es gibt mehrere Möglichkeiten, die Bewegung in einem Gravitationspotenzial zu
beschreiben. Für diese Fragestellung erweis sich eine bestimmte Gruppe von
Größen, sogenannte "Wirkungsvariablen", als besonders geeignet. Die
Wirkungsvariablen ähneln bekannten physikalischen Größen wie Energie oder
Drehimpuls, die sich aus der Bewegung eines Objekts errechnen lassen, sind
allerdings deutlich abstrakter. Sie haben einen entscheidenden Vorteil:
Verschmilzt eine kleinere Galaxie mit der Milchstraße, dann sind sich die Werte
der Wirkungsvariablen für alle beteiligten Komponenten – Sterne, Satelliten,
Kugelsternhaufen – untereinander sehr ähnlich, und das über den gesamten Ablauf
des Verschmelzungsprozesses hinweg. Eine Auswertung der Wirkungsvariablen kann
deswegen umgekehrt Aufschluss darüber geben, welche Objekte ursprünglich Teil
derselben Galaxie und damit desselben Verschmelzungsprozesses waren.
Die Forscherinnen und Forscher berechneten aus den Gaia-Daten die Werte der
Wirkungsvariablen für insgesamt 170 Kugelsternhaufen, 41 Sternströme und 46
Satellitengalaxien. Ganze 62 der Objekte konnte ihre statistische Analyse
tatsächlich insgesamt sechs verschiedenen Verschmelzungen zuordnen, von denen
fünf bereits bekannt waren: Sagittarius, Cetus, Gaia-Sausage/Enceladus, LMS-1/Wukong
und Arjuna/Sequoia/I'itoi. Aber auch eine vorher nicht bekannte Verschmelzung
wurde entdeckt: Das Team gab der Verschmelzung und der dabei beteiligten
kleineren Galaxie den Namen Pontus. Die kleinere Galaxie Pontus, die mit unserer
verschmolz, bewegte sich dabei entgegengesetzt zur Rotation der
Milchstraßenscheibe, und das bei vergleichsweise geringer Energie. Das könnte
darauf hindeuten, dass diese spezielle Verschmelzung schon sehr lange her ist.
Die Analyse lieferte außerdem neue Daten über eine bereits zuvor bekannte
Verschmelzung: Sie zeigte, dass drei bereits zuvor bekannte Sternströme
tatsächlich ein Teil der LMS-1/Wukong-Verschmelzung waren, die 2020 entdeckt
wurde. Interessanterweise sind dies die "metallärmsten" Sternströme, die wir
kennen. Dabei muss man wissen: "Metalle" sind im Sprachgebrauch der Astronomie
alle Elemente, die schwerer als Wasserstoff und Helium sind. Enthielt die
Vorläufergalaxie nur sehr wenige dieser schwereren Elemente, dann ist
wahrscheinlich, dass sie bereits sehr früh in der kosmischen Geschichte
entstand. Die Verschmelzung jener Galaxie mit unserer Milchstraße könnte
allerdings auch erst sehr viel später stattgefunden haben.
Für die übrigen 195 Objekte gibt es mehrere Möglichkeiten. Diese Objekte
könnten Teil deutlich kleinerer Galaxien gewesen sein, die mit der Milchstraße
verschmolzen sind und keine größeren Objektgruppen zurückgelassen haben. Sie
könnten auch ein Hinweis auf die Grenzen der verwendeten Methode sein. Dafür
spricht, dass die Forscher einen Kandidaten für eine siebte Verschmelzung durch
direktes Nachschauen in ihrem Wirkungsvariablen-Diagramm fanden, während die
automatische Auswertung diese und zwei andere, vorher bereits bekannte
Verschmelzungen übersehen hatte.
Letztlich braucht es offenbar mehrere sich ergänzende Ansätze, um die
kosmische Geschichte unserer Heimatgalaxie zu rekonstruieren. Aber alles in
allem machen die sechs automatisch nachgewiesenen Verschmelzungen (plus der
zusätzliche Kandidat) den Großteil der geschätzten neun bis zehn Verschmelzungen
mit massereicheren Galaxien aus, die unsere Heimatgalaxie in ihrem bisherigen
Leben überhaupt durchgemacht hat.
Die jetzt neu veröffentlichte Analyse liefert dabei noch keine Rekonstruktion
der kosmischen Ereigniskette – sagt also nichts darüber aus, in welcher
Reihenfolge die Verschmelzungen stattfanden. Diese Reihenfolge planen die
Forscherinnen und Forscher in einem nächsten Schritt herauszufinden, indem sie
die möglichen Abfolgen der Verschmelzungen simulieren. Klappt alles wie geplant,
dann sollte der Vergleich zwischen den Ergebnissen dieser Simulationen
einerseits und den verfügbaren Daten andererseits zeigen, wie sich der stellare
Halo unserer Galaxie in den letzten Milliarden Jahren mehr und mehr gefüllt hat
– ein Verschmelzungsereignis nach dem anderen.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in der
Zeitschrift The Astrophysical Journal erschienen ist.
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