Bettruhe statt Raumflug
Redaktion
/ Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt astronews.com
31. August 2015
Während eines Raumflugs sorgt die Schwerelosigkeit dafür,
dass sich im Körper eines Astronauten einiges verändert: Unter anderem bilden
sich Muskeln und Knochen zurück. Um die Prozesse dabei besser zu verstehen und
auch um Gegenmaßnahmen zu entwickeln, wird nicht nur im Erdorbit geforscht,
sondern auch auf der Erde - unter anderem im Bett.

Um die Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf
den menschlichen Körper zu simulieren, liegen die
Probanden zum Kopf hin um sechs Grad geneigt.
Foto: DLR [Großansicht] |
Für die nächsten Wochen ist die Forschungseinrichtung :envihab des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) das Zuhause von zwölf kerngesunden Männern
zwischen 20 und 45 Jahren. Die Zwölf sind Probanden einer
Langzeit-Bettruhestudie - und werden deshalb nach zweiwöchigen
Ausgangsuntersuchungen und -messungen anschließend für zwei Monate im Bett
liegen.
Dabei wird ihr Bett zum Kopf hin um sechs Grad nach unten geneigt sein, damit
sich ihre Körperflüssigkeiten in Richtung Oberkörper verschieben; ihre Knochen
und Muskeln der unteren Körperhälfte werden sich durch die Bewegungslosigkeit
abbauen. "So simulieren wir die Auswirkungen der Schwerelosigkeit im All auf den
menschlichen Körper", sagt DLR-Wissenschaftler Dr. Edwin Mulder, Leiter der
Studie, die das DLR im Auftrag der ESA durchführt. "Unsere Probanden sind
sozusagen irdische Astronauten."
Die Hälfte dieser Probanden wird auf einem speziell entworfenen
Trainingsgerät liegend mehrmals in der Woche ein Sprungtraining absolvieren.
"Wir wollen herausfinden, ob dieses sehr intensive Training eine effektive
Gegenmaßnahme gegen den Knochen- und Muskelabbau sein kann."
Derzeit müssen Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation ISS
nämlich über zwei Stunden am Tag Sport treiben, um die negativen Effekte ihres
Arbeitsplatzes auf ihren Körper möglichst gering zu halten. Mit der Studie im
DLR soll nun unter anderem untersucht werden, ob andere Übungen sich nicht noch
besser als Gegenmaßnahme eignen könnten. Die Probanden der Trainingsgruppe
werden daher fünf bis sechs Mal pro Woche vor allem mit kleinen, kräftigen
Sprüngen trainieren. "Ein kurzes, knackiges Training mit einem starken
muskulären Reiz - so etwas gibt es im All bisher noch nicht", erläutert
Studienleiter Dr. Edwin Mulder vom DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin.
Insgesamt führen die beteiligten Wissenschaftler rund 90 Experimente durch:
Neben den Auswirkungen der Inaktivität auf Knochen und Muskeln während der
zweimonatigen Bettruhe untersuchen sie Veränderungen des Herz-Kreislauf-Systems,
des Gleichgewichtssinns, der Augen, der Thermoregulation oder auch des autonomen
Nervensystems. Auf die Probanden kommen daher regelmäßig Untersuchungen und
Messungen zu.
Lucas Braunschmidt ist einer der zwölf irdischen Astronauten - kerngesund,
wie ausführliche Tests gezeigt haben, ungefähr im Alter eines Astronauten und
medizinisch interessiert. In den 60 Tagen und Nächten, die er im Bett liegen
wird, wird die Knochendichte seiner Beine und seiner Hüfte voraussichtlich um
zwei bis vier Prozent abnehmen. Die Muskeln in den Beinen und im Rücken werden
abbauen - am stärksten ist dabei der Wadenmuskel mit bis zu 25 Prozent
betroffen.
Braunschmidt hat gerade seine dreijährige Ausbildung zum Ergotherapeuten
erfolgreich abgeschlossen und schiebt die Teilnahme an der Studie vorm
Berufsanfang im nächsten Jahr ein: "Mich interessiert die Erfahrung." Später
einmal werde er schließlich Patienten behandeln, die eben diese Erfahrung
gemacht hätten. Bettlägerig, angewiesen auf die Hilfe anderer, mit Knochen und
Muskeln, die erst wieder aufgebaut werden müssen. Außerdem plant Braunschmidt
für die Zukunft auch noch ein Medizinstudium - "und mit der Studie lerne ich die
neuesten Untersuchungsmethoden kennen, habe zum Beispiel bei der
Knochendichtemessung meinen Körper zum ersten Mal so gesehen und sehe, wie
Forschung abläuft."
Pro Tag ziehen zurzeit jeweils zwei Probanden in die DLR-Forschungsanlage :envihab
ein. Nach einer detaillierten Erfassung ihrer Werte vor der Bettruhe folgt dann
ab dem 9. September 2015 nach und nach der Beginn der Liegephase. Während dieser
Phase gilt: Niemand der Probanden darf aufstehen, immer muss eine Schulter an
der Matratze bleiben - diese Regel muss bei allem vom Essen bis zum Duschen
eingehalten werden. Auch ein regelmäßiger Tag-Nacht-Rhythmus und eine streng
kontrollierte Ernährung sind vorgeschrieben. Temperatur und Luftfeuchtigkeit
werden einheitlich in dem Forschungsmodul mit zwölf Einzelzimmern geregelt.
Besuch ist zwar nicht erlaubt, der Kontakt über Handy und Internet zur Außenwelt
ist jedoch möglich.
Nach der Bettruhe werden alle Probanden nicht nur erneut zwei Wochen lang
untersucht und vermessen, sondern auch mit Reha-Maßnahmen betreut. "Der Knochen-
und Muskelabbau wird vollständig nach der Studie wieder ausgeglichen werden",
erläutert DLR-Arzt Dr. Ulrich Limper, der als medizinischer Leiter die Studie
begleitet. Die Erholungsphase ist daher besonders spannend für die Mediziner.
"Allerdings untersuchen wir nicht nur die akute Erholung, sondern auch den
langfristigen Aufbau von Knochen und Muskeln."
Nach ihrem Aufenthalt im :envihab nehmen die Probanden daher an fünf
Nachfolgeuntersuchungen im Laufe der nächsten zwei Jahre teil. "Bisher wissen
wir, dass Knochenabbau wieder vollständig reversibel ist, allerdings dauert es
länger, bis der ursprüngliche Zustand erreicht wird - und diesen Mechanismus
wollen wir besser verstehen."
Für eine zweite Studienphase ab Ende Januar werden derzeit noch männliche
Probanden zwischen 20 und 45 Jahren gesucht. "Wir benötigen gesunde Teilnehmer,
denen bewusst ist, was sie bei der Studie erwartet, und die gut ins Team
passen", erläutert Alexandra Noppe vom DLR-Studienteam. "Forschung funktioniert
hier nur in einer Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern und Probanden." Nach
einem ersten Fragebogen werden Interessierte zu einer Informationsveranstaltung
eingeladen. Bevor man als Proband ausgewählt wird, sollten allerdings die
Auswertung psychologischer Fragebögen, einer medizinischen Untersuchung und
eines psychologischen Interviews positiv ausfallen.
Lucas Braunschmidt nimmt sich für die freiwillige Bettruhe DVDs, Bücher und
Zeitschriften mit. "Ich glaube nicht, dass mir langweilig werden wird", sagt er.
Zum einen dauere ja selbst Duschen länger als üblich, dazu noch die Experimente
- "da wird der Tag schon gut gefüllt sein." Im Familien- und Freundeskreis gab
es zunächst öfter einmal sprachloses Staunen, wenn der 22-Jährige von seinem
zukünftigen Probandendasein erzählte. "Ich konnte ja aber von Mal zu Mal besser
erklären, was an dieser Studie so spannend ist."
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