Einblick in die Struktur von Neutronen
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Universität Mainz astronews.com
17. November 2021
Alle Atomkerne bestehen aus Protonen und Neutronen,
doch weiß die Wissenschaft insbesondere über das Neutron noch vergleichsweise
wenig. Mithilfe aufwendiger Annihilationsexperimente ist es Forschenden nun
gelungen, mehr über die Struktur dieser Elementarteilchen zu erfahren. Die
Ergebnisse könnten helfen, die Verschmelzung von Neutronensternen besser
zu verstehen.
Künstlerische Darstellung eines Neutrons -
soweit dies überhaupt möglich ist: Das Neutron
besteht aus drei Quarks, die durch Gluonen
verbunden sind.
Bild: Prof. Dr. Xiaorong Zhu, University
for Science and Technology, China [Großansicht] |
Sämtliche bekannte Atomkerne und damit fast die gesamte sichtbare Materie
bestehen aus Protonen und Neutronen – und doch sind viele Eigenschaften dieser
allgegenwärtigen Bausteine der Natur noch nicht verstanden. Insbesondere das
Neutron als ungeladenes Teilchen verschließt sich vielen Messungen und es gibt
auch 90 Jahre nach seiner Entdeckung noch viele offene Fragen, beispielsweise in
Bezug auf seine Größe und seine Lebensdauer.
Das Neutron besteht seinerseits aus drei Quarks, die, über Gluonen verbunden,
darin umherschwirren. Physikerinnen und Physiker nutzen elektromagnetische
Formfaktoren, um diese dynamische innere Struktur des Neutrons zu beschreiben.
Die Formfaktoren geben somit eine mittlere Verteilung von elektrischer Ladung
und Magnetisierung innerhalb des Neutrons wieder und können experimentell
bestimmt werden.
"Ein einzelner Formfaktor, gemessen bei einer bestimmten Energie, sagt
zunächst einmal nicht viel aus", erläutert Prof. Dr. Frank Maas, Wissenschaftler
am Mainzer Exzellenzcluster PRISMA+, am Helmholtz-Institut Mainz (HIM) und am
GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt. "Erst die Kenntnis
der Formfaktoren bei verschiedenen Energien erlaubt Rückschlüsse auf die
Struktur des Neutrons." Für bestimmte Energiebereiche, die über klassische
Streuexperimente von Elektronen an Protonen zugänglich sind, sind die
Formfaktoren mit guter Genauigkeit bekannt. Für weitere Bereiche, die nur über
sogenannte Annihilationsexperimente, bei denen sich Materie und Antimaterie
gegenseitig vernichten, zugänglich sind, war dies bisher nicht der Fall.
Nun es ist es gelungen, am BESIII-Experiment in China genau diese Daten für
den Energiebereich von 2 bis 3,8 Gigaelektronenvolt zu messen und zwar im
Vergleich zu vorherigen Messungen mit mehr als 60-mal größerer Genauigkeit. "Im
übertragenen Sinne haben wir einen weißen Fleck auf der 'Landkarte' der
Neutron-Formfaktoren, der bisher unbekanntes Terrain war, mit neuen Daten
ausgefüllt", sagt Maas. "Diese sind nun ähnlich präzise wie Daten aus den
korrespondieren Streuexperimenten. Dadurch wird sich die Datenlage hinsichtlich
der Formfaktoren des Neutrons radikal verändern und wir erhalten auf diese Weise
ein weit umfassenderes Bild über diesen wichtigen Baustein der Natur."
Um in den gewünschten Bereich der Formfaktor-"Landkarte" vordringen zu
können, benötigen die Physiker Antiteilchen. Für ihre Messungen nutzte die
internationale Kollaboration daher den Beijing Electron-Positron Collider II.
Hier werden Elektronen und ihre positiven Antiteilchen, die Positronen, in einem
Beschleuniger zur Kollision gebracht und vernichten sich unter Aussendung
verschiedener neuer Teilchenpaare gegenseitig – die Physik nennt dies
Annihilation. Den Prozess, bei dem sich aus einem Elektron und einem Positron
ein Neutron und ein Anti-Neutron bilden, haben die Forscherinnen und Forscher
mit dem BESIII-Detektor beobachtet und analysiert.
"Solche Annihilationsexperimente sind bei Weitem nicht so etabliert wie
klassische Streuexperimente", sagt Maas. "Viel Entwicklungsarbeit war nötig, um
das aktuelle Experiment durchführen zu können – die Intensität des
Beschleunigers musste verbessert und der Detektor für das schwer fassbare
Neutron praktisch neu erfunden werden. Auch die Analysetechnik ist alles andere
als trivial. Da hat unsere Kollaboration echte Pionierarbeit geleistet."
Damit noch nicht genug: Bei ihren Messungen haben die Physikerinnen und
Physiker festgestellt, dass der Formfaktor in Abhängigkeit der Energie keine
glatte Linie ergibt, sondern ein oszillierendes Muster zeigt, bei dem die
Ausschläge mit zunehmender Energie kleiner werden. Dieses überraschende
Verhalten haben sie in ähnlicher Weise beim Proton beobachtet – allerdings sind
die Ausschläge gespiegelt, also phasenverschoben. "Das neue Feature spricht
zunächst einmal dafür, dass die Nukleonen keine einfache Struktur haben",
erläutert Maas. "Nun sind unsere Kolleginnen und Kollegen in der Theorie
gefragt, Modelle für dieses außergewöhnliche Verhalten zu entwickeln."
Schließlich rückt die BESIII-Kollaboration mit ihren Messungen noch das Bild
des Verhältnisses der Formfaktoren von Neutron und Proton zurecht: Hier hatte
das FENICE-Experiment vor vielen Jahren ein Verhältnis größer eins gemessen, was
bedeutet, dass das Neutron durchgehend einen größeren Formfaktor aufweist als
das Proton. "Da das Proton geladen ist, würde man es aber genau umgekehrt
erwarten", so Maas. "Und genau dies sehen wir, wenn wir unsere Daten zum Neutron
mit kürzlich bei BESIII gemessenen Daten zum Proton vergleichen. Hier haben wir
unser Bild der kleinsten Teilchen also wieder zurechtgerückt."
Wichtig sind die neuen Erkenntnisse vor allem, weil sie sehr grundlegend
sind, ist Maas überzeugt. "Sie geben einen neuen Einblick in die fundamentalen
Eigenschaften des Neutrons. Zudem können wir durch den Blick auf die kleinsten
Bausteine der Materie auch Phänomene verstehen, die sich in den größten
Dimensionen abspielen – wie die Verschmelzung zweier Neutronensterne. Diese
Physik der Extreme ist schon sehr faszinierend."
Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift Nature Physics veröffentlicht.
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