Die ersten Sternparallaxen unter der Lupe
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Radioastronomie astronews.com
23. November 2020
1838 gelang Friedrich Wilhelm Bessel die erste
Entfernungsbestimmung zu einem anderen Stern mithilfe der trigonometrischen
Parallaxe. Zwei Astronomen haben sich jetzt die Arbeit von Bessel noch einmal
vorgenommen und im Detail nachvollzogen. Was sie dabei entdeckten,
veröffentlichten sie nun in der gleichen Zeitschrift, in der schon Bessel
publiziert hatte.

1984 erschien anlässlich des 200.
Geburtstages von Friedrich Wilhelm Bessel eine
Sonderbriefmarke.
Bild: Bundesministerium der Finanzen (BMF).
Entwurf von Hermann Schwahn, nach einem Gemälde
von Johann Eduard Wolff [Großansicht] |
Bestimmungen der Entfernung zu astronomischen Objekten sind von grundlegender
Bedeutung für die gesamte Astronomie und für die Einordnung unseres Platzes im
Universum. Die alten Griechen stellten die unbeweglichen "Fixsterne" in weit
größere Ferne als die Himmelskugeln, auf denen die Planeten ihrer Bewegungen
vollzogen. Die Frage "Wie viel weiter?" entzog sich jedoch noch Jahrhunderte
lang einer Antwort, nachdem Astronomen begonnen hatten, sich mit ihr
auseinanderzusetzen.
Die Dinge spitzten sich Ende der 1830er Jahre zu, als sich drei Astronomen
unabhängig voneinander auf jeweils einen Stern konzentrierten und dazu viele
Nächte an ihrem Teleskop verbrachten, oft unter schwierigen Bedingungen. Es war
Friedrich Wilhelm Bessel, der 1838 das Rennen gewann, indem er verkündete, dass
die Entfernung zum Doppelsternsystem 61 Cygni im Sternbild Schwan 10,4
Lichtjahre beträgt. Dies bewies, dass Sterne nicht nur geringfügig weiter von
uns entfernt sind als die Planeten im Sonnensystem, sondern mehr als eine
Million Mal weiter.
Das war ein wahrhaft transformatives Ergebnis, das den Maßstab des
Universums, wie es im 19. Jahrhundert bekannt war, völlig veränderte. Bessels
Messung basierte auf der Methode der trigonometrischen Parallaxe. Dies ist im
Wesentlichen eine Triangulation, wie sie von Vermessungsingenieuren zur
Bestimmung von Entfernungen im Land verwendet wird. Astronomen messen die
scheinbare Position eines "nahen" Sterns gegenüber viel weiter entfernten
Sternen über ein ganzes Jahr hinweg, wobei sie ihre Messungen an verschiedenen
Punkten der Erdumlaufbahn um die Sonne durchführen. Bessel musste seine
akribischen Messungen über fast 100 Nächte an seinem Teleskop durchführen.
Heutzutage sind Astronomen sehr viel "effizienter". Die Gaia-Weltraummission
misst genaue Entfernungen für Hunderte von Millionen von Sternen, mit großen
Auswirkungen für die gesamte Astronomie. Wegen des interstellaren Staubes in den
Spiralarmen unserer Milchstraße hat Gaia jedoch Schwierigkeiten, Sterne
innerhalb der galaktischen Ebene zu beobachten, die weiter von der Sonne
entfernt sind als etwa 10.000 Lichtjahre. Daher wird selbst ein so fundamentales
und umfangreiches Projekt wie Gaia nicht den grundlegenden Grundriss unserer
Galaxie liefern können, von dem viele Aspekte noch lebhaft diskutiert werden. Es
ist sogar noch ungewiss, wie viele Spiralarme es in unserer Milchstraße gibt.
Um die Struktur und Größe der Milchstraße besser zu verstehen, initiierten
Mark Reid vom Center for Astrophysics - Harvard & Smithsonian und Karl Menten
vom Max-Planck-Institut für Radioastronomie (MPIfR) ein Projekt zur Bestimmung
der Entfernungen zu Radioquellen, die in den Spiralarme der Milchstraße sitzen.
Das dafür bestgeeignete Teleskop ist das Very Long Baseline Array, ein
Netzwerk von zehn Radioteleskopen, das sich von Hawaii im äußersten Westen bis
zu den Virgin Islands im Osten der USA erstreckt. Durch die Kombination der
Signale aller zehn Teleskope, die Tausende von Kilometern voneinander entfernt
sind, erhält man Bilder, die zeigen, was man sehen könnte, wenn unsere Augen für
Radiowellen empfindlich wären und einen Abstand von fast der Größe der Erde
voneinander hätten.
Dieses Projekt wird von einem internationalen Team durchgeführt, wobei
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des MPIfR wesentliche Beiträge leisten
– MPIfR-Direktor Karl Menten pflegt seit mehr als 30 Jahren eine fruchtbare
Zusammenarbeit mit Mark Reid. Als zu Beginn des Projekts ein eingängiges Akronym
diskutiert wurde, wählten sie den Namen "Bar and Spiral Structure Legacy
Survey", kurz BeSSeL. Natürlich hatten sie dabei den großen Astronomen und
Mathematiker Friedrich Wilhelm Bessel, den Pionier der Messung von
Sternparallaxen, im Sinn.
Wie in jeder experimentellen oder beobachtenden Wissenschaft erlangen
Messungen nur dann Bedeutung, wenn ihre Unsicherheiten zuverlässig bestimmt
werden können. Dies ist auch das alltägliche Brot der Radio-Astrometrie und wird
von den Astronominnen und Astronomen des BeSSeL-Projekts besonders beachtet. Zu
Bessels Zeiten hatte man gelernt, auf Messfehler zu achten und sie bei der
Ableitung von Ergebnissen aus ihren Daten zu berücksichtigen. Dazu gehörten oft
mühsame Berechnungen, die ausschließlich mit Bleistift und Papier durchgeführt
wurden.
Natürlich war ein Wissenschaftler von Bessels Kaliber sehr wohl bemüht, alle
Probleme zu analysieren, die seine Beobachtungen möglicherweise beeinflussen
könnten. So erkannte er, dass Temperaturschwankungen in seinem Teleskop die
empfindlichen Messungen in kritischer Weise beeinflussen könnten. Bessel hatte
in seiner Sternwarte in Königsberg in Preußen (dem heutigen russischen
Kaliningrad) ein hervorragendes Instrument, das von dem genialen
Instrumentenbauer Joseph Fraunhofer stammte und das letzte war, das dieser
gebaut hatte. Die Temperaturschwankungen hatten einen großen Einfluss auf die
für eine Parallaxenmessung erforderlichen Beobachtungen. Sie müssen über ein
ganzes Jahr verteilt sein, wobei einige im heißen Sommer, andere in kalten
Winternächten gemacht werden.
Reid hatte damit begonnen, sich mit Bessels Originalarbeiten über 61 Cygni zu
befassen. Er bemerkte einige kleine Ungereimtheiten in den Messungen. Um diese
zu verstehen, begannen er und Menten, sich tiefer in die Originalliteratur
einzugraben. Bessels Veröffentlichungen erschienen im Original in Deutsch, in
den Astronomischen Nachrichten, obwohl einige in Auszügen, ins
Englische übersetzt, auch in den Monthly Notices of the Royal Astronomical
Society herauskamen. Daher mussten die deutschen Originalfassungen
analysiert werden, wobei sich die Tatsache als nützlich erwies, dass Mentens
Muttersprache Deutsch ist.
Reid und Menten nahmen auch die Ergebnisse von Bessels Konkurrenten bei der
Ermittlung von Sternparallaxen unter die Lupe. Thomas Henderson, der in
Kapstadt, Südafrika, arbeitete, hatte α Centauri ins Visier genommen, die
Hauptkomponente des, wie wir heute wissen, unserer Sonne nächstgelegenen
Sternsystems. Kurz nachdem Bessel sein Ergebnis bekannt gegeben hatte,
veröffentlichte Henderson eine Entfernung zu diesem Stern. Der bedeutende
Astronom Friedrich Georg Wilhelm von Struve vermaß α Lyrae (Vega).
Die Literatursuche nach von Struves Daten erforderte einiges an
Detektivarbeit. Ein detaillierter Bericht über seine Messungen wurde nur in
lateinischer Sprache als Kapitel einer umfangreichen Monographie veröffentlicht.
Der Bibliothekar des MPIfR verfolgte ein Exemplar bis zur Bayerischen
Staatsbibliothek, die es in elektronischer Form zur Verfügung stellte. Es ist
lange Zeit ein Rätsel gewesen, warum von Struve ein Jahr bevor Bessel sein
Ergebnis für 61 Cygni mitteilte, eine vorläufige Entfernung zur Wega ankündigte,
um sie später auf Grund weiterer Messungen auf den doppelten Wert zu revidieren.
Es scheint, dass von Struve zunächst alle seine Messungen verwendet hat, aber am
Ende das Vertrauen in einige davon verloren und diese verworfen hat. Hätte er
dies nicht getan, hätte er wahrscheinlich mehr Anerkennung für sein Resultat
erhalten.
Reid und Menten können im Allgemeinen die von allen drei Astronomen erzielten
Ergebnisse reproduzieren, stellten jedoch fest, dass von Struve und Henderson
einige ihrer Messunsicherheiten zu klein ansetzten, was ihre Parallaxen etwas
aussagekräftiger erscheinen ließ, als sie es tatsächlich waren. "Bessel über die
Schulter zu schauen, war eine bemerkenswerte Erfahrung und hat Spaß gemacht",
sagt Reid und Menten ergänzt: "Die Arbeit von Bessel und seiner Kollegen sowohl
in einem astronomischen als auch in einem historischen Kontext betrachten zu
können, war wirklich faszinierend."
Zum Andenken an Bessel beschlossen Reid und Menten, ihre Ergebnisse ebenfalls
in den Astronomischen Nachrichten zu veröffentlichen. Im Jahre 1821
gegründet, war dies eine der ersten astronomischen Zeitschriften der Welt und
sie bleibt die älteste, die noch immer erscheint.
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