@Monod: Das DA hat einen Realitätsbezug: Die Erfahrung, dass wir viel häufiger typisch sind, als untypisch. Warum das Ticketbeispiel keinen Realitätsbezug haben soll, sehe ich nicht. Du kannst es selbst ausprobieren. So lange das Kino nicht bis auf den letzten Platz ausverkauft ist, könnte es auch beliebig gross sein, es würde für die Betrachtung keinen Unterschied machen (wenn es ausverkauft ist, gibt es wohl einige, die abgewiesen werden mussten, was in der Realität nicht vorkommt). Das Kaufen eines Tickets entspricht der Geburt und der Vergabe einer Geburtsnummer. Der springende Punkt ist, dass du selbst dann die Anzahl Besucher an diesem Abend zuverlässig abschätzen kannst, wenn noch nicht alle Tickets verkauft sind. Ich finde, die Analogie zur Menschheit springt einem sofort ins Auge, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass man anhand der Tickets die totale Besucheranzahl vernünftig abschätzen kann.
In beiden Fällen hat sich die 95-Prozent-Sicherheit in Luft aufgelöst, obwohl sie mathematisch korrekt ermittelt wurde. Irgend etwas muss also an den Grundannahmen der Doomsday-Kalkulation falsch sein.
Das Problem ist, dass du nicht wirklich zufällig aus allen Bakterien auswählst, sondern du wählst nur zufällig innerhalb von Phase 2 aus, in der - wie du ganz genau weisst - nur ganz wenige Bakterien leben, im Vergleich zur Gesamtsumme. Im Prinzip ist das lediglich eine etwas komplizierte Variation des Neandertaler-Argumentes: du pickst dir ein Individuum heraus, von dem du sicher weisst, dass es nicht typisch ist, und willst damit zeigen, dass das DA für dieses Individuum zu einem falschen Ergebnis kommt. Um das DA zu widerlegen, müsstest du jedoch zeigen, dass es nicht für 95% aller Bakterien mit 95% Wahrscheinlichkeit die richtige Antwort ergibt. Würdest du nämlich stattdessen zufällig aus deinen insgesamt 2^46 Bakterien auswählen, wäre die Bakteriennummer auf jeden Fall ein Mass für die Anzahl aller Bakterien, die es je in der Kultur geben wird. Du missachtest, dass zwar für die Bakterien in Phase 2 das DA zu 100% falsch ist - aber trotzdem ist das DA für 95% aller Bakterien, die je in der Kultur existieren, richtig! Zur Erinnerung: mit dem DA kommen 5% aller Bakterien zu einer falschen Einschätzung, 95% zu einer richtigen. Sich die paar wenigen (5%) Bakterien rauszusuchen, die mit dem DA zu einer falschen Einschätzung kommen, um dann damit das DA als widerlegt zu erklären, ist wiedersinnig: es ist klar, dass einige von ihnen falsch liegen müssen, und das DA sagt das auch explizit voraus.
Wenn du wüsstest, dass du irgend eine Bakterie wärst, aber nicht wüsstest, wie viele Bakterien es insgesamt geben wird (N), aber nun schätzen müsstest, wie gross sie wohl ist: Diejenige Bakterie, die die exakte Zahl oder das kleinste Intervall nennt, kommt in den Bakterienhimmel, alle anderen in die Bakterienhölle. Was würdest du tun? Was ist die beste Strategie?
A) Irgend eine natürliche Zahl raten?
B) Eine Zahl N = 500 Mio * deine Bakteriennummer nennen?
C) Abschätzen, dass N < 20 * deine Bakteriennummer ist?
Klar, wenn du eine arme Bakterie aus Phase 2 bist, wirst du damit falsch liegen. Pech gehabt. Aber eine Strategie, mit der du mit 95% richtig liegst, ist viel besser, als eine, bei der du dich auf pures Glück verlassen musst.
@Kibo:
Es gibt einen Indiz, das die Menschheit sich in Phase 2 befindet, denn unser Planet ist noch nicht voll, genau so wenig wie unser Sonnensystem, unsere Galaxie, oder unser Universum.
Dann müsste man die starke Annahme machen, dass wir diese Lebensräume noch füllen werden (und weiter, dass es sich dabei überhaupt um "Lebensraum" handelt, der gefüllt werden kann). Dafür haben wir keinerlei Anhaltsgrund. Aus unserer Sicht muss es leider als genauso plausibel gelten, dass wir uns selbst vernichten werden, bevor es so weit ist. Wir beobachten z.B. keine anderen, sich gerade mit Zivilisation füllenden oder gar vollen Galaxien im Universum. Wir haben auch keinerlei Hinweise darauf, dass das in unserer Galaxie schon mal geschehen ist, ja wir sehen sogar, dass die Erde relativ spät in der Phase, in der erdähnliche Planeten entstehen können, aufgetaucht ist.
Wenn das Gilt, so kann man das das DA nicht mehr nach dem Geburtsrang anwenden, da das, aufgrund der exponentiellen Vermehrung, unsinnig wäre.
Mit dem Geburtsrang hat das nichts zu tun, wohl aber damit, dass man unter der von dir gemachten starken Annahme, wir würden den Platz im Universum schon noch füllen, selbstverständlich untypisch wären. Aber die Frage läuft letztlich gerade anders herum: warum sollte man eine solche starke Annahme machen, annehmen, dass wir so extrem untypisch sind, wenn wir keinerlei Hinweis darauf haben, dass dem so ist? Ich kann mir nur eine Erklärung vorstellen: Wunschdenken. Das ist aber eher ein schlechter Ratgeber, wenn wir der Bedeutung unseres Platzes im Universum wirklich auf den Grund gehen wollen. Wunschdenken darf darin keinen Platz haben, sonst machen wir uns bloss etwas vor, verstellen uns selbst den Blick auf das potentiell Wesentliche.
@Spacewalk1: (ich rolle deinen Post von hinten auf...)
Welches Szenario würdest Du bevorzugen?
Die Frage ist doch nicht, welches Szenario ich bevorzuge. Wie gerade oben gesagt: es geht nicht um Wunschdenken. Mich interessiert, warum das Universum nicht voller Zivilisationen ist, und was uns unsere eigene Beobachtung, dass wir auf dem Heimatplaneten unserer Zivilisation sitzen, lange vor der Gründung irgendwelcher autarker Kolonien, uns dazu sagen könnte.
Ich nehme an, du meinst damit: Wir befinden uns im typischen Teil der Verteilung.
Zivilisationen können in der Galaxie keine Kolonien bilden. Andernfalls würden wir uns ja als typische Zivilisation, mit hoher Wahrscheinlichkeit, innerhalb einer Kolonie befinden.
Das ist korrekt. Zumindest wird der typische Beobachter nicht in einer Kolonie geboren. Es kann durchaus Kolonien geben, selbst wenn sich die Menschheit nicht mehr klassisch fortpflanzt. Man könnte sich z.B. ein Szenario vorstellen, in dem Menschen - etwa in Form von Uploads - unsterblich werden, und sich später höchstens noch durch digitale Rekombination vermehren. Jedes zukünftige Indviduum wäre dann ein Produkt von unzähligen Persönlichkeiten, deren jeweilige Ursprünge auf die Zeit ~ungefähr heute zurückgehen. Oder, alle Persönlichkeiten verschmelzen in einer einzigen, kollektiven Intelligenz, die darauf den Planeten (oder gleich das Universum?) verlässt, irgendwo anders hin. Oder noch etwas anderes. Das alles sind gewissermassen optimistische Szenarien, in denen die Menschheit irgendwie fortbesteht, auch wenn sie sich nicht mehr weiter fortpflanzt - weil Technologie sie zu etwas ganz neuem gemacht hat. Ob diese Szenarien auch für sich genommen und im Vergleich mit den vielen denkbaren Aussterbeszenarien realistisch sind, steht auf einem anderen Blatt.
Im Übrigen haben wir jeden Grund, anzunehmen, dass das Gründen von echten, autarken Kolonien auf fernen Planeten viel schwieriger ist, als uns die SciFi suggeriert. Am schwerwiegendsten auf lange Sicht scheint mir das Problem zu sein, dass eine Kolonie ohne regelmässigen Kontakt zur Heimatwelt niemals selbst das Technologielevel erhalten kann, die zu ihrer Aufrechterhaltung, speziell in einer lebensfeindlichen Umgebung, nötig ist. Eine Kolonie von 10000 Menschen kann vielleicht einen gewissen Lebens- und Technikstandard erhalten, aber der dürfte viel zu klein sein, um wirklich autark zu sein. Nehmen wir klassische Reproduktionsraten an, wird diese Kolonie pro Jahr nur vielleicht rund 100 Kinder hervorbringen. Jetzt nimm mal zufällig 100 Kinder: wie viele hochkarätige Ingenieure, Wissenschaftler, Mathematiker findet man denn wirklich darunter, mit denen man eine Kolonie betreiben könnte? Was macht man mit allen anderen? Was, wenn die alten Kolonisten, die ja wohl alle ebensolche Ingenieure, Wissenschaftler, Mathematiker waren, wegsterben? Wer ersetzt sie? Biologische Vermehrung ist einfach kein erfolgreicher Ansatz, um eine Kolonie in einer lebensfeindlichen, hochtechnisierten Umgebung langfristig zu erhalten. Es wäre, wenn schon, erfolgreicher, wenn die Kolonisten biologisch unsterblich wären. Dann muss die Kolonie auch nicht für ewig sein, und sie können weiterziehen, wenn sie getan haben, was immer sie auf dem Planeten (Mond, Asteorid...) tun wollten.
Damit kommen wir auch weg von der bakterienartigen Vermehrung, hin zu einem stabilen Gleichgewicht, bei dem die Zivilisation bis auf eine gewisse Grösse wächst, danach die Zahl der Geburten zurückgeht, dafür die mittlere Lebensdauer wächst, bis der reproduktive Teil der Bevölkerung ausgestorben ist. Danach kommt eine langgezogene Sterbephase mit nur noch gelegentlichen, künstlichen Reproduktionen. Schliesslich, wenn klar wird, dass die biologische Phase sich definitiv ihrem Ende zuneigt, dass das biologische Substrat Homo Sapiens sich überlebt hat, folgt der Übergang auf ein anderes, stabileres Substrat: der Upload. Die Individuen, die in der Zeit der biologischen Phase entstanden sind, könnten danach wohl noch extrem lange Zeit, auch Milliarden von Jahren, wenn es gut kommt, überdauern. Der typische Beobachter in diesem Universum wäre natürlich sehr alt, aber er hätte irgendwann einmal biologische Wurzeln auf der alten Erde von damals gehabt - er könnte sogar du oder ich sein. Über die Vorstellung, die Menschheit könnte sich Jahrmilliarden lang so vermehren, wie sie es einst während einer kurzen Phase auf der alten Erde tat, könnte er wohl nur trocken lachen.