Das Schicksal von Schrödingers Katze

TomS

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Existieren die unendlich vielen Katzen gemäß der MWI eigentlich bereits bevor das Experiement gestartet wurde, oder entstehen diese erst, während das Experiment läuft?
In dieser Formulierung ist das Missverständnis schon vorprogrammiert.

Existieren die Zweige und Blätter eines Baumes als Zweige und Blätter schon vor der Keimung des Baumes? Nein. Existiert die Materie, aus der Zweige und Blätter entstehen? Ja.

Bei ersteren gäbe es unendlich viele Zweige mit der Folge, dass alles existiert.
Nein. Gemäß der MWI existiert immer – vor und nach der Beobachtung – exakt das, was wir mittels genau einem Quantenzustand mathematisch beschreiben. Von dem, was insgesamt existiert, erscheint jedem Beobachter innerhalb seines Zweiges jedoch nur ein "Ausschnitt", sein Zweig. Andere Zweige werden auf eine mathematisch sehr präzise Weise sozusagen unsichtbar; das ist ein Ergebnis der Dekohärenz.

Bei zweiterem entsteht aus dem nichts, also ohne Berücksichtigung der biologischen Fortpflanzung, eine zweite Katze.
Nein.

Die Zweige und Blätter eines Baumes entsteht innerhalb des 3-dim. Raumes. Die vorhandene Materie bildet eine entsprechende Struktur aus.

Im Falle der Quantenmechanik findet diese "Verzweigung" im Hilbertraum statt, wobei alle Naturgesetze wie Energieerhaltung strikt berücksichtigt werden.

Die MWI postuliert diese Verzweigung dabei nicht, sie akzeptiert lediglich das, was die Mathematik der Quantenmechanik – also die auf der Schrödingergleichung beruhende Dekohärenz – vorhersagen.

… kommt die klassische Definition von Existenz … in der klassischen MWI Interpretation [massiv ins Wanken].
Das beruht wohl auf Missverständnissen.

Ob eine Elektron irgendwie durch beide Spalten geht und sich dadurch sozusagen mikroskopische Zweige ausbilden, oder ob sich die Katze makroskopisch verzweigt, folgt exakt den selben deterministischen Regeln – der Schrödingergleichung.

Da kommt keine Definition ins Wanken.

Wie in Minute 25:00 erwähnt, kommt John Wheeler zu der Erkenntnis, dass Information die Grundlage des seins sein könnte.
Na ja, Wheeler hat einfach eine völlig andere metaphysische Sichtweise als sein Doktorand Everett. Von daher kommen derartig verschiedene Interpretationen nie zusammen, das ist auf Ebene von Gleichungen nicht diskutierbar.
 
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SuperpositionSimon

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Schön wieder von Dir zu lesen.
Existieren die Zweige und Blätter eines Baumes als Zweige und Blätter schon vor der Keimung des Baumes? Nein. Existiert die Materie, aus der Zweige und Blätter entstehen? Ja.
Gefällt mir gut, das Beispiel, mehr dazu im Kommentar zu deinem zweiten Zitat.

Nein.

Die Zweige und Blätter eines Baumes entsteht innerhalb des 3-dim. Raumes. Die vorhandene Materie bildet eine entsprechende Struktur aus.

Im Falle der Quantenmechanik findet diese "Verzweigung" im Hilbertraum statt, wobei alle Naturgesetze wie Energieerhaltung strikt berücksichtigt werden.

Die MWI postuliert diese Verzweigung dabei nicht, sie akzeptiert lediglich das, was die Mathematik der Quantenmechanik – also die auf der Schrödingergleichung beruhende Dekohärenz – vorhersagen.
Während ich das Experiment vorbereite und ich Atom und Katze beobachte, lebt in meiner Welt genau eine Katze und das Atom ist nicht zerfallen. Auch wenn es zu dem Zeitpunkt bereits unendlich viele Parallelwelten gibt, kann dieses Experiment isoliert davon betrachtet werden (Es kommen lediglich weitere unendlich viele Welten dazu :) ). Sobald das Experiment gestartet wurde, finden weitere Verzweigungen statt. Dabei muss eine weitere Katze enstehen, die vorher nicht existiert hat. Da diese Entstehung und somit die Existenz der zweiten Katze nicht mit den klassischen Naturgesetzen bzw. in dem Fall biologischen Gesetzen erklärbar ist, aber du selbst argumentierst, dass alle Naturgesetze strikt berücksichtigt werden, wäre interessant, wie genau in der MWI der Entstehungsprozess der zweiten Katze dann erklärt werden kann. Ein Zweig wächst ja schließlich auch nicht in ein paar Millisekunden...

Na ja, Wheeler hat einfach eine völlig andere metaphysische Sichtweise als sein Doktorand Everett. Von daher kommen derartig verschiedene Interpretationen nie zusammen, das ist auf Ebene von Gleichungen nicht diskutierbar.

Die hat aber scheinbar auch Anton Zeilinger.

Anton Zeilinger, der Quanteninformatiker aus Wien, der heute Wheelers Idee im Labor weiterführt, schreibt, dass «wir bewusst nicht mehr fragen, was ein elementares System eigentlich ist. Sondern wir sprechen letztlich nur über Information. Ein elementares System (. . .) ist nichts anderes als der Repräsentant dieser Information, ein Konzept, das wir aufgrund der uns zur Verfügung stehenden Information bilden.» Zeilinger stellt sogar das radikale Postulat auf: «Wirklichkeit und Information sind dasselbe.» Man könnte vom Postulat des informationellen Realismus sprechen: Am Anfang war das Bit.
 

TomS

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Sobald das Experiment gestartet wurde, finden weitere Verzweigungen statt. Dabei muss eine weitere Katze enstehen, die vorher nicht existiert hat.
Das ist ein irreführender Sprachgebrauch.

Im Beispiel des Baumes entstehen auch keine neuen Kohlenstoffatome. Die existierenden werden lediglich anders geordnet.

Da diese Entstehung und somit die Existenz der zweiten Katze nicht mit den klassischen Naturgesetzen bzw. in dem Fall biologischen Gesetzen erklärbar ist ...
Sie ist ein Resultat der Schrödingergleichung, also der Naturgesetze im Rahmen der Quantenmechanik.

... wäre interessant, wie genau in der MWI der Entstehungsprozess der zweiten Katze dann erklärt werden kann.
Mittels Dekohärenz. Das ist übrigens mathematisch unstrittig; die Frage ist nur, ob man an die Existenz dieser neuen Katzen glauben möchte oder nicht.

Ein Zweig wächst ja schließlich auch nicht in ein paar Millisekunden...
Dekohärenz ist da schneller.

Die hat aber scheinbar auch Anton Zeilinger.
Ja, darf er doch. Es gibt sicher ein gutes Dutzend recht unterschiedlicher Interpretationen, und Zeilingers Sichtweise ist da nicht so unüblich.

Zu Alternativen schau mal hier:
 
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SuperpositionSimon

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Aufgrund der Diskussion bzgl. Existenz bin ich auf das Postulat von Anton Zeiliger aufmerksam geworden, dass Information und Wirklichkeit das gleiche ist. Ich habe mir daraufhin sein Buch "Einsteins Schleier" bestellt. Dieses ist am Freitag gekommen. Seine Schlussfolgerungen decken sich perfekt meinen Schlussfolgerungen. Hier ein paar markante Zitate aus dem Buch und der Vergleich mit meiner Interpretation:

Zeilinger "Einsteins Schleier" S.229:
Information = Wirklichkeit

Meine Interpretation:
Unbekannt = Unbestimmt
--> Beschreibt inhaltlich das gleiche, nur negiert:
Unbekannt = keine Information
Unbestimmt = Undefiniert --> Dem System können keine Eigenschaften zugeordnet werden

Zeilinger "Einsteins Schleier" S.228
In unserem Bild ist also Information, ist Wissen der Urstoff des Universums. Wir können nun die Frage stellen: Wessen Wissen? Wer muss die Information tragen? Führt dies nicht doch zu einem reinen Solipsismus, d.h. zu der Annahme, dass es nur ein einziges Bewusstsein in der Welt gibt, nämlich das eigene, und dass sich alles im Rahmen dieses Wissens, im Rahmen dieses Bewusstseins abspielt? Es wird ja auch häufig der Kopenhagener Interpretation vorgeworfen, sie sei eine rein subjektivistische Interpretation, bei ihr existiere die Welt nur im Bewusstsein des Beobachters. Um gegen diese Position zu argumentieren, kann man nur Vernunftgründe anführen. Sie wie viele andere philosophische Positionen lässt sie sich rein logisch nicht widerlegen.

Mein Post #8
Hallo Ralf,

Danke für deinen Input. Letztlich freue ich mich über jeden, der konstruktiv an diesem Thema teilnimmt. Diese Interpretation würde eine Lösung auf das Messproblem der Quantenmechanik liefern und ich will herausfinden, ob sich diese Interpretation beweisen oder gerne auch widerlegen lässt. Dazu unterhalte ich mich gerne mit ChatGPT und halte euch über den aktuellen Stand hier auf dem laufenenden. Jeder ist gerne eingeladen mit mir diese Interpretation weiter voran zu treiben. Aktuell kämpfe ich beispielsweise damit, diese Interpretation zu Ende zu denken, ohne dabei von der extremen Position des solipsistischen Weltbildes gebrauch machen zu müssen.

Zeilinger "Einsteins Schleier" S.169
Worauf es bei der Messung, bei der Beobachtung jedoch immer ankommt, ist, dass wir letztendlich von einem Sinneseindruck sprechen können. Denn ohne Sinneseindruck gibt es keine Beobachtung
Mein Post #55
Stell dir mal einen Menschen vor, der keinerlei Sinnesorgane hat. Was könnte dieser Mensch beobachten?
Zeilinger "Einsteins Schleier" S.160
Wenn wir die Welt um uns beobachten, so sprechen wir von Gegenständen, von Objekten, deren Existenz nicht in Frage gestellt wird und die unabhängig davon, ob wir sie beobachten oder nicht. Wir nehmen ferner ohne weiteres an, dass die Gegeäntände, die wir beobachten, kontinuierlich existieren. Das heißt, wenn dir den Mond heute sehen und wenn wir ihn gestern gesehen haben, so nehmen wir automatisch an, ohne daran auch nur einen Gedanken zu verschwenden,, dass der Mond dazwischen auch existiert haben muss.......
S.161
Es ist eine Sprache, die von der objektiven Existenz von Gegenständen ausgeht, sowie davon, dass es kein Problem darstellt, den Weg dieser Objekte in Raum und Zeit zu beschreiben, und dass es auch kein Problem darstellt, sich diesen Weg vorzustellen, unabhängig davon, ob ein Objekt, das wir betrachten, tatsächlich auch beobachtet wird. Genau dies stellt abre im Falle von Quantensystemen ein großes Problem dar. Wird haben ja im Falle des Doppelspalts bereits gesehen, welche Probleme es gibt, wenn wir uns die Frage stellen, welchender beiden Wege das Teilchen nimmt...

Mein Post #79
Tatsächlich halte ich es für sehr wahrscheinlich dass wir eine falsche Vorstellung davon haben, was man unter Existenz versteht. Wie bereits erwähnt lässt die Definition von Existenz sehr zu wünschen übrig. Meines Erachtens ist es die Intuition, die uns glauben lässt, dass Materie unabhängig von der Beobachtung existiert. Ähnlich wie es auch intuitiv wäre, dass die Sonne um die Erde kreist. Ich freue mich aber an dieser Stelle über Argumente oder gar Beweise, die dafür sprechen dass Materie unabhängig von der Beobachtung exisitert. Mir wäre weder ein Argument noch Beweis bgekannt. Daher halte ich es für deutlich wahrscheinlicher, dass die bekannten Eigenschaften von Materie erst bei der Beobachtung entstehen.

Zeilinger "Einsteins Schleier" S.157
In Fortführung dessen, was wir früher gesehen haben, können wir ganz allgemein sagen, dass Dekohärenz dann auftritt, wenn vom System Information darüber in die Umgebung getragen wird, in wlechem Zustand es sich befindet. Solange eine solche Information nicht vorliegt, gil kohärente Superposition

Mein Post #55
Letzlich wäre ja auch ein Beobachter, dessen Informationsmangel durch die Messung beseitigt wird, eine Wechselwirkung mit der Umgebung. Somit sehe ich, obwohl ich eine Lösung des Problems ohne Beobachter für unwahrscheinlich halte, durchaus das Potential, dass die wissenschaftlichen Erkenntnisse der Dekohörenz zur Lösung des Messproblems beitragen könnten.

Zeilinger "Einsteins Schleier" S.131
Wir hatten ja beim Doppelspalt gesehen, dass, wann immer es zwei oder mehr Möglichkeiten eines Zustandes eines Quantensystems gibt, und wenn keinerleich Information darüber existiert, welcher der beiden Zustände tatsächlich vorliegt, wir mit einer Superposition zu rechnen haben

Mein Post #74
7) aus 5) und 6) folgt jeder Informationsmangel eines Beobachters führt zu Zuständen ohne Wertdefiniertheit, d.h. zu superponierten Zuständen.
(Bsp. vor der Sichtung der Münze, die bereits zur Ruhe gekommen ist, ist noch nicht eindeutig definiert, ob diese bei Sichtung Kopf oder Zahl zeigen wird)

Zusammenfassend ist hier ein sehr hohes Maß an Übereinstimmung erkennbar. Für mich ist an dieser Stelle ein weiterer Meilenstein erreicht. Für mich ist es unfassbar in meiner begrenzten Freizeit, nur durch logisches Denken, ohne Labor und tiefgreifenderer Mathematik zur Quantenmechanik zum gleichen Postulat zu kommen, wie Nobelpreisträger Anton Zeilinger. Fortan versuche ich diese Interpretation weiter zu entwickeln anstelle nach Widersprüchen zu suchen.

Vielen Dank an Tom für Deine stets konstruktiven Beiträge. Das war der Auslöser warum ich zu dem Buch gekommen bin.
 
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TomS

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Damit verabschiedest du dich von einer realistischen Interpretation, also nach deiner Meinung beschreibt ein Quantenzustand nicht das, was tatsächlich und unabhängig von einer Beobachtung existiert, sondern er beschriebt sozusagen potentielle Realitäten.

Dazu gibt es tatsächlich mehrere Interpretationen, die diese Stoßrichtung verfolgen, und die eine logische Verbesserung von "Kopenhagen" erreichen wollen. Mir fallen insbs. Consistent Histories, QBIsm / Quantum information theories ein; eventuell auch Relational quantum mechanics.

Nur so als Anregung bzw. Lesestoff ...

 
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SuperpositionSimon

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Damit verabschiedest du dich von einer realistischen Interpretation, also nach deiner Meinung beschreibt ein Quantenzustand nicht das, was tatsächlich und unabhängig von einer Beobachtung existiert, sondern er beschriebt sozusagen potentielle Realitäten.
Was tatsächlich existiert ist weniger eine Frage der Interpretation, sondern eher eine Frage der Definition.

Nur so als Anregung bzw. Lesestoff ...
Besten Dank, muss ich mir noch genauer ansehen, aber folgendes Zitat gefällt mir schon mal darin:
My effort here is not to modify quantum mechanics to make it consistent with my view of the world, but to modify my view of the world to make it consistent with quantum mechanics
 

TomS

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Was tatsächlich existiert ist weniger eine Frage der Interpretation, sondern eher eine Frage der Definition.
Äh, nein.

Was existiert ist eine philosophische Frage an die Natur, die Welt, das Sein … Wir gehen davon aus, dass wir dies teilweise mehr oder weniger zutreffend erkennen können. Wären wir davon nicht überzeugt, wären wir keine Naturwissenschaftler.

Was tatsächlich existiert, hat wohl nichts damit zu tun, was wir interpretieren oder definieren. Das habe ich auch nicht geschrieben!

Hier …
… also nach deiner Meinung beschreibt ein Quantenzustand nicht das, was tatsächlich und unabhängig von einer Beobachtung existiert, sondern er beschriebt sozusagen potentielle Realitäten …
… ging es nicht darum, was tatsächlich und unabhängig von einer Beobachtung existiert, sondern darum, was der Quantenzustand zu dem zu sagen hat, was tatsächlich existiert.

Ich glaube jedenfalls nicht, dass sich die Natur nach unseren Vorstellungen richtet, oder nach einer physikalischen Theorie.

Der Zustand im Formalismus der Quantenmechanik ist ein mathematisches Konstrukt. Was genau beschreibt er? Im Rahmen der Newtonschen Mechanik können wir ohne größere Schwierigkeiten annehmen, die mathematische Wurfparabel beschreibe eine reale parabolische Bahn eines real geworfenen Steins; so einfach ist das in der Quantenmechanik sicher nicht.
  • Wenn der Zustand beschreibt, was real existiert, existieren dann unendlich viele Katzen, obwohl wir nur eine wahrnehmen?
  • Wenn der Zustand unendlich viele potentielle Möglichkeiten beschreibt, warum beschreibt er dann nicht, welche davon tatsächlich realisiert (und beobachtet) wird?
Das sind keine Fragen, was wie existiert, sondern Fragen – unter der Voraussetzung, dass wir uns dazu bereits eine Meinung gebildet haben – was die Quantenmechanik auf Basis dieser metaphysischen Grundhaltung zu sagen hat.
 
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SuperpositionSimon

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Diese Interpretation postuliert makroskopische Superpositionen bedingt durch den Informationsmangel des Beobachters. Das wird zwar eine harte Nuss, aber ich würde diese Superpositionen gerne experimentiell beweisen. Eine Möglichkeit wäre dabei die Verletzung der bellschen Ungleichung im Makrokosmos nachzuweisen. In folgendem Video ist ein einfacher Versuchsaufbau für Photonen beschrieben:
Den Versuchsaufbau habe ich daheim schon durchgeführt und kann bestätigen, dass durch Einsatz eines dritten Filters mehr Licht durch kommt (was mich sehr beeindruckt hat :))
Da das Photon entweder ganz oder gar nicht durch den Filter kommt (1-Bit), kann es nach dem Polfilter keine beliebige Polarisationsrichtung annehmen sondern muss 0° zum Polfilter betragen.
Nun wäre die Frage, ob das gleiche Prinzip irgendwie auf den Makrokosmos übertragbar wäre.
 

SuperpositionSimon

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Zum Thema Wirklichkeit hier noch ein sehr interessantes Video:

Modellabhängiger Realismus nach Stephen Hawking:
Kernaussage ist, dass alle Modelle, die eine zutreffende Vorhersage liefern, gleichwertig als real angesehen werden können. Man könne also keines dieser Modelle als „realer“ einstufen. Dies hat zur Folge, dass es keine „richtige“ Realität gibt.
 

TomS

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Das überrascht mich nicht – mit Ausnahme der Bezeichnung, "modellabhängiger Realismus"; das ist m.E. Humbug (nicht die Idee, nur der Begriff). Hawking hat sich immer als Positivist bezeichnet, und so sollte man seine Idee auch einsortieren.

Was existiert ist eine philosophische Frage an die Natur, die Welt, das Sein … Wir gehen davon aus, dass wir dies teilweise mehr oder weniger zutreffend erkennen können. Wären wir davon nicht überzeugt, wären wir keine Naturwissenschaftler.

Was tatsächlich existiert, hat wohl nichts damit zu tun, was wir interpretieren oder definieren. Das habe ich auch nicht geschrieben!
Und wohl auch Hawking nicht.

Ich glaube jedenfalls nicht, dass sich die Natur nach unseren Vorstellungen richtet, oder nach einer physikalischen Theorie.
Und auch Hawking ist wohl nicht dieser Meinung.

Der Zustand im Formalismus der Quantenmechanik ist ein mathematisches Konstrukt. Was genau beschreibt er? …
  • Wenn der Zustand [im Rahmen der Quantenmechanik] beschreibt, was tatsächlich real existiert, existieren dann unendlich viele Katzen, obwohl wir nur eine wahrnehmen?
Das sind keine Fragen, was wie existiert, sondern Fragen – unter der Voraussetzung, dass wir uns dazu bereits eine Meinung gebildet haben – was die Quantenmechanik auf Basis dieser metaphysischen Grundhaltung zu sagen hat.
Hawking behauptet nicht, dass sich die Realität nach den Modellen richtet, sondern dass sich das, was wir beobachten – durch unterschiedliche Modelle unterschiedlich jedoch immer zutreffend beschreiben lässt. Das ist eine positivistische Haltung, und das ist völlig OK. Dass er recht hat, zeigen uns bessere Beispiele als die im Video genannten, z.B. die Schrödingersche und die Heisenbergsche Formulierung der Quantenmechanik.

Das folgende ist jedoch m.E. ziemlich irreführend bis falsch.

Kernaussage ist, dass alle Modelle, die eine zutreffende Vorhersage liefern, gleichwertig als real angesehen werden können. Man könne also keines dieser Modelle als „realer“ einstufen. Dies hat zur Folge, dass es keine „richtige“ Realität gibt.
Nein. Insbs. haben unsere Modelle keinerlei Konsequenzen für die Realität.

Wenn es so lauten würde
Kernaussage ist, dass alle Modelle, die eine zutreffende Vorhersage liefern, gleichwertig als zutreffend angesehen werden können. Man könne also keines dieser Modelle als „zutreffender“ einstufen. Dies hat zur Folge, dass diese Modelle wenig bis gar nichts zur Realität aussagen können.
wäre logisch und begrifflich alles in Ordnung.

Zumindest im YouTube-Video wird implizit das, was ihr beobachten, und das, was real existiert, verwechselt oder unbewusst / implizit identifiziert – jedoch ohne diese philosophische Grundhaltung explizit zu nennen. Wie gesagt, das passt zu Hawkings positivistische Grundhaltung, derzufolge er über eine Realität, die nicht unmittelbar mit einer Beobachtung identisch ist, gar nicht sprechen will.

Gegen diese Haltung ist nichts einzuwenden – man kann sie einnehmen, muss aber nicht – jedoch gegen den Missbrauch des Begriffs der Realität.


Meine Sichtweise ist grob folgende:
  1. Realität = das, was tatsächlich existiert
  2. Phänomen = das, was ich wahrnehme
  3. Theorie (Modelle) = mathematische Repräsentation von X
  4. Observable = konkrete mathematische Entitäten im Rahmen von (3) zur Beschreibung von (2)
Nach dem Video sehe ich an zwei Stellen große Fragezeichen.
  • Identifiziert Hawking (1) und (2), ignoriert er (1), hält er die Idee von (1) unabhängig von (2) oder "hinter" (2) für sinnlos? Dazu sagt das Video nicht.
  • Was genau ist das X in (3)? Wenn jemand meint, X wäre auf der Ebene (2) zu verorten, so hat er noch nie Quantenfeldtheorie betrieben. Praktisch kein mathematisches Objekt in einer QFT hat irgend etwas mit (2) zu tun, und praktisch keine Observable (4) ist eine brauchbare Beschreibung von (2).
Wenn Hawking wirklich der Meinung ist, unsere Beobachtung seien der Maßstab, dann zeigt die schlichte Existenz der mathematischen Repräsentation vieler Katzen in (3) ohne eine vernünftige Erklärung in (3,4) für die Beobachtung nur einer Katze in (2), dass dieser Ansatz heute schlicht ungenügend ist. Wir haben nicht mehrere Modelle wie im Falle des helio- bzw. geozentrischen Weltbildes, wir haben keines.

Dazu müsste ich aber die entsprechende Arbeite von Hawking lesen.


Umgekehrt kann man natürlich gegen den Realismus einwenden, es wäre anmaßend, zu meinen, dass das von uns konstruierte (3) irgendetwas über (1) aussagen könne. Stattgegeben. Dennoch sehe ich einige Punkte die dafür sprechen:
  • Wir begehen damit nicht von vornherein den Fehler, (1) und (2) zu identifizieren
  • Wir begehen keineswegs den im Video genannten Fehler, (3) und (1) zu identifizieren; das ist ein Strohmann; wir wissen, dass (3) immer nur unzureichend, unvollständig, verzerrend … über (1) sprechen kann.
  • Wir begehen nicht den Fehler, (3) auf (2) zu beziehen; das war bei Newton OK, im Rahmen der QM / QFT ist es Käse.
  • Da (3) in vielen Fällen nahezu perfekt zutreffende (4) für (2) liefert, (3) und (2) jedoch strukturell nichts gemein haben, trauen wir uns, anzunehmen, das X in (3) sei tatsächlich (1); und wir formulieren das vorsichtig.

Da schon Hawking angeführt wird, nenne ich noch Penrose. Dieser ist im von mir beschriebenen Sinne Realist bzw. folgt eher Platon, d.h. fasst das X in (3) als Repräsentation von Aspekten von (1) auf.


Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.
(Alfred North Whitehead, 1861-1947)
 
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SuperpositionSimon

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Danke für deine wieder sehr ausführliche und informative Rückmeldung. Habe aktuell recht viel um die Ohren, daher meine späte Antwort.

Meine Sichtweise ist grob folgende:
  1. Realität = das, was tatsächlich existiert
  2. Phänomen = das, was ich wahrnehme
  3. Theorie (Modelle) = mathematische Repräsentation von X
  4. Observable = konkrete mathematische Entitäten im Rahmen von (3) zur Beschreibung von (2)
Mit Punkt 1 kann ich nach wie vor so nichts anfangen und das ist meines Erachtens genau der Knackpunkt, den ich gerne genauer diskutieren möchte.
Meines Erachtens kann der Begriff "tatsächlich" gestrichen werden, da er den Begriff Realität auch nicht genauer definiert.
Bleibt übrig: Realität = Existenz

Zum Thema Existenz noch die Definition von Wikipedia:
Das Wort Existenz (lateinisch existentia „Bestehen, Dasein“) bezeichnet in der Philosophie das Vorhandensein eines Dinges ohne nähere Bestimmung, ob es sich um einen materiellen oder ideellen Gegenstand handelt.

Betrachtet man hier nur die materiellen Eigenschaften folgt: Realität = Existenz = Vorhandensein eines Dinges

Um zu beweisen, dass diese Definition wahr ist, bedarf es widerum einen Beobachter mit Sinnesorganen. Eine Person die keinerlei Sinnesorgane besitzt hat keine Möglichkeit, die Definition von Realität zu überprüfen.

Nenn mir gerne eine Definition von Realität, die unabhängig von der Beobachtung ist und sich auch beweisen lässt.
 

TomS

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"Das Wort Existenz bezeichnet in der Philosophie das Vorhandensein eines Dinges ohne nähere Bestimmung, ob es sich um einen materiellen oder ideellen Gegenstand handelt."
Betrachtet man hier nur die materiellen Eigenschaften folgt: Realität = Existenz = Vorhandensein eines Dinges
Wir sind uns einig, dass wir hiermit nicht unbedingt Dinge oder Gegenstände im Sinne unserer Alltagssprache meinen, sondern dass wir diesen Begriff sehr weit fassen müssen. Ich bevorzuge z.B. Entitäten.

Nenn mir gerne eine Definition von Realität, die unabhängig von der Beobachtung ist und sich auch beweisen lässt.
Ich kenne keine.

Logisch beweisen kann man nur etwas im Rahmen der Logik und der reinen Mathematik. Sogar da wissen wir seit Gödel et al., dass gewisse "Wahrheiten" unbeweisbar sind. In den Naturwissenschaften spielt der Beweis keine Rolle, lediglich eine möglichst konsistente Theorie sowie empirische Belege für oder gegen etwas.

Da ich an die Realität bzw. das, was real ist, also existiert, nicht mittels Beweisen herankomme, aber genausowenig an die Nichtexistenz, lasse ich zunächst mal die Idee zu, dass etwas existiert, was sich zumindest teilweise mathematisch fassen und verstehen kann, zum Teil wohl aber auch nicht. Da ich nicht unter der Hybris der Idealisten leide, lasse ich außerdem zu, dass es zwar keine strikte Definition von Realität unabhängig von Beobachtung gibt (übrigens auch nicht abhängig von Beobachtung), dass jedoch etwas auch unabhängig von meiner Beobachtung existieren kann; denn warum sollte sich das, was existiert, nach meinen eingeschränkten Fähigkeiten der Beobachtung richten? Also habe ich eine einfache Hypothese: es existiert etwas, und ich bin mittels Sensorik, Aktorik und Verstand in der Lage, mir davon ein mehr oder weniger zutreffendes Bild zu verschaffen. Daraus resultieren dann so kühne Hypothesen wie die, dass die Bierflaschen im Kühlschrank nicht plötzlich zu grünen Gummibärchen werden, sobald ich die Türe schließe, und sich beim Öffnen derselben sofort wieder in Bierflaschen verwandeln.

Ich bin also nicht an einer theoretischen und beweisbaren Definition von Realität interessiert, sondern an einer praktisch funktionierenden Sichtweise. Und da diese in der Physik so exzellent funktioniert, halte ich es für wahrscheinlich, dass X in (3) auf (1) verweist, was sich zwar (2) weitgehend entzieht, jedoch dennoch existieren kann (ja, ohne Beweis; evtl. sind die Bierflaschen ja auch ganz weg ... ich geh gleich nachschauen)



Mir fallen aber ein paar Beispiele ein, an denen man sich abarbeiten kann.
  • mein Gefühl des Interesses an diesen Diskussionen, sowie mein Ansinnen, mir gleich einen Kaffee zu kochen
  • mein Selbst-Bewusstsein (engl. self-consciousness)
  • die Raumzeit; die Quantenverschränkung; ... abstrakte mathematische Entitäten, die wir weder wahrnehmen noch deren Existenz wir beweisen können, die aber auf etwas Reales hinweisen in dem Sinne, dass es beobachtbare Phänomene gibt, die wir ohne diese Begriffe nicht erklären können; also das obige X in der Ebene (3)
  • Quarks, also zunächst rein mathematische Entitäten (3), mittels derer ich bestimmte Phänomene (2) nicht nur im Nachhinein beschreiben, sondern sogar neue Phänome zutreffend vorhersagen kann, die also mehr leisten als eine ex-post Erklärung, die also nicht nur nach (2) konstruiert sind, sondenr die darüber hinausweisen
Ich denke, der letzte Punkt ist genau das, was viele Physiker daran glauben lässt, dass sich (3) nicht nur mit (2) befasst, sondern mit (1). Wenn Einsteins Theorie vor 100 Jahren die Existenz von Gravitationswellen vorhergesagt hat, dann halten viele das für einen Beleg (keinen Beweis) dafür, dass sie eben mehr darstellt als nur eine Beschreibung von Phänomenen (2).

Wahrscheinlich kann man das nur verstehen, wenn man selbst intensiv Physik betrieben hat.
 

Rainer

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denn warum sollte sich das, was existiert, nach meinen eingeschränkten Fähigkeiten der Beobachtung richten?
"Beobachtung" ist dasselbe wie die Messung und umschließt daher alle WW. Wenn aber etwas nicht wechselwirkt, dann gibt es das "praktisch" nicht.
So ist ja auch die Definition der UR. Es ist nicht die Mangelhaftigkeit der Messung, sondern die mangelnde WW.
 

TomS

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"Beobachtung" ist dasselbe wie die Messung und umschließt daher alle WW. Wenn aber etwas nicht wechselwirkt, dann gibt es das "praktisch" nicht.
So ist ja auch die Definition der UR. Es ist nicht die Mangelhaftigkeit der Messung, sondern die mangelnde WW.
Jetzt schreibst du aber nicht mehr von deiner oder meiner Beobachtung, sondern von potentiell allen Wechselwirkungen.

Rein philosophisch könnte man sogar argumentieren, dass Existenz nicht zwingend eine irgendwie geartete Wechselwirkung voraussetzt.

Aber es geht mir ums praktische. Fast nichts von dem, üpber was wir uns heute in der Physik Gedanken machen, lässt sich in diese Begriffsschematra pressen.

Siehe oben: Raumzeit, Quantenverschränkung, Quarks

Was einst du dazu?
 

Rainer

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Siehe oben: Raumzeit, Quantenverschränkung, Quarks

Was einst du dazu?
Ich habe den Thread nicht verfolgt und kann zu Verschränkung und Zusammenbruch der Wellenfunktion, was dasselbe Phänomen ist, nichts sagen. Es bleibt vorerst ein Mysterium.

  • die Raumzeit; die Quantenverschränkung; ... abstrakte mathematische Entitäten, die wir weder wahrnehmen noch deren Existenz wir beweisen können, die aber auf etwas Reales hinweisen in dem Sinne, dass es beobachtbare Phänomene gibt, die wir ohne diese Begriffe nicht erklären können; also das obige X in der Ebene (3)
Ja, so könnte ich das für die Quantenverschränkung auch unterschreiben. Wobei ein Zweiteilchensystem ja nichts Besonderes ist, das Problem ist "nur" die spukhafte Fernwirkung.

Bei der Raumzeit ist das ja nur ein Konstrukt aus Raum und Zeit, aber Du meinst sicherlich die Minkowski Metrik. Tja das ist schon seltsam. Die Zeit als imaginäre Raumdimension war zwar schon vorher gebräuchlich, wenn ich nicht irre.

  • Quarks, also zunächst rein mathematische Entitäten (3), mittels derer ich bestimmte Phänomene (2) nicht nur im Nachhinein beschreiben, sondern sogar neue Phänome zutreffend vorhersagen kann, die also mehr leisten als eine ex-post Erklärung, die also nicht nur nach (2) konstruiert sind, sondenr die darüber hinausweisen
Naja, Quarks sind als Elementarteilchen nichts Neues, also gut vorstellbar. Sie haben auch keine absonderlichen Eigenschaften. Damit habe ich gar kein Problem, sie als real anzusehen.

Jede Wahrnehmung ist ja indirekt. Wenn ich sage, dort steht ein Stuhl, dann habe ich ja nur gesehen, dass er dort steht. Und ich habe ihn auch nicht gesehen, sondern nur Licht, das von ihm reflektiert wurde. Und das Licht habe ich auch nicht gesehen, sondern meine Stäbchen in der Netzhaut wurden davon gereizt und haben ein Signal ins Gehirn gesendet, das sich dann die ganz Story einfach nur gemäß der Erfahrung zusammenreimt.

Den Zusammenhang zur Überlagerung der Katze sehe ich nun zwar nicht, aber das Thema ist auch nicht meine Kragenweite.

Übrigens bin ich der Ansicht, dass die Katze solange lebt, wie sie in einem Überlagerungszustand wäre, das genügt fürs Überleben ;-) denn dann ist sie ja nicht tot. Interessant wird es allerdings (ggf) bei der Obduktion, wenn der Todeszeitpunkt festgestellt wird.
 
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antaris

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Ein Phänomen ... ist in der Erkenntnistheorie eine mit den Sinnen wahrnehmbare, abgrenzbare Einheit des Erlebens, beispielsweise ein Ereignis, ein Gegenstand oder eine Naturerscheinung. Davon abweichend wird mitunter nicht das Wahrgenommene, sondern eine Wahrnehmung selbst als Phänomen bezeichnet.
Ohne Interpretation nimmt man Phänomene aber nicht wirklich wahr. Ansonsten müssten wir ja nicht von Geburt an lernen, unsere sinnliche Wahrnehmung zu interpretieren.

Ein neugeborenes muss die Wahrnehmung und Kognition erst durch lernen und interpretieren entwickeln
Siehe hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Wahrnehmung#Organisationsprinzipien_der_Wahrnehmung
 
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