Mein Gebiet ist Softwarearchitektur... und in dem Gebiet ist es so, daß bestehende Konzepte eine bestimmte Lebenszeit haben, weil sich die Umgebungsbedingungen sehr oft ändern.
Der auftretende Effekt ist, daß "etablierte Systeme" dazu neigen, ihre vernünftige Lebensdauer zu übersteigen, weil die "träge Masse" der damit vertrauten Programmierer ;-) immer wieder versucht, mit den gewohnten Mitteln neue Erkenntnisse "nachzubasteln". Hierbei wird nicht geprüft, ob die Erfordernisse zur Zeit der Entwicklung des zugrundeliegenden Systems überhaupt noch mit den neuen Erfordernissen übereinstimmen.
Man kann zumindest logisch/gedanklich das zugrundeliegende technische Netzwerk mit den Naturgesetzen und -Konstanten gleichsetzen, die Ergebnisse der darauf laufenden Programme mit den "beobachtbaren" Fakten. Ändert sich die Ausgabe (das Ergebnis des Programms, analog der beobachtete Fakt), dann kann man eben auf 2 Ebenen nach der Ursache bzw. Erklärung suchen: auf der Programmebene oder auf den Netzwerkebene. Liegt die Erklärung in den tieferen Netzwerkebenen, dann kann man trotzdem das Programm so ändern daß das Ergebnis wieder "stimmt". Damit hat man aber die Ursache umgangen. Leider ist dies die immer wieder geforderte Vorgehensweise, und das erklärt sich daraus, das dieser Weg einfacher und damit kostengünstiger ist. Würde man den Fehler in der tieferliegenden Netzwerkschicht beheben, dann müßte man alle Programme daraufhin prüfen, ob sie noch funktionieren - mit wesentlich größerem Aufwand.
(Theoretische Informatiker werden sicher sehen, daß ich hier eigentlich zwei Argumentationen vermische - aber das ist hier sekundär, da ich nur etwas veranschaulichen will...)
Umgesetzt auf den Weg menschlicher Erkenntnis bedeutet dies, daß das Gehirn dazu neigt, den Lösungsweg mit dem geringsmöglichen Aufwand zu finden, und das ist eben derjenige der am dichtesten mit schon vorhandenen Erkenntnissen in Übereinstimmung gebracht werden kann. Je mehr grundsätzliche Erkenntnisse betroffen sind, je tiefer die geänderten Schichten, desto komplexer wird die Überprüfung aller darüber liegenden Erkenntnisschichten.
Gesehen habe ich dies und die daraus hervorgehenden Verhaltensweisen in der Praxis schon sehr sehr oft. Ein einfaches Beispiel aus der Programmierung, etwas abgewandelt: Angenommen ich habe ein Zeitabrechnungsprogramm für eine Firma. Alle Mitarbeiter werden nach den selben Vorgaben (zb. monatliche Arbeitszeit, Ruhezeiten etc) abgerechnet, daraus ergeben sich z.B. Überstunden als Ergebnis. Das für die Berechnung zuständige Programmstück nenne ich A und es sei in einer Datei gekapselt. Auf einmal gibt es einen neuen Tarifplan mit einem zweiten Berechnungsmodell A2 für besondere Mitarbeiter, daß ich einbeziehen und unter bestimmten Bedingungen aktivieren muß. Der natürliche Weg ist, dies auf die triviale Art zu tun - so daß man eben das neue Modell implementiert und unter den gegeben Bedingungen alternativ aufruft. Man hat dann zwei Module A1 (das alte A) und eben das neue A2. Man hat damit ein Pflaster auf die Wunde geklebt, nämlich die neue Situation direkt gelöst, aber das zugrundeliegende Problem nicht gelöst: daß nämlich überhaupt ein zweites Modell aufgetaucht ist. Daraus ergibt sich nämlich direkt die Frage, warum es nicht weitere Modelle A3, A4, ..., A
geben soll, die eine Lösung nach dem Schema A(1,2,....,N) erzwingen. Wenn man mit jedem neuen Modell ein neues Pflaster baut, besteht das ganze Programm sehr schnell aus Leukoplast, und dann ist die "Lebenszeit" dieses Programmes auch überschritten. Diese Vorgehensweise ist ohne Zweifel Standard in der Anwendungs-Programmierung (im Gegensatz zur Systemprogrammierung, wo dies eigentlich verboten ist, aber aus anderen Gründen gelegentlich auch vorkommt).
Ein Beispiel hierzu aus der Astronomie sind zum Beispiel die Epizyklen. Hier wurden die beobachteten Fakten einfach durch Einführung eines naheliegenden Lösungsansatzes an das bestehende kosmologische Modell angepasst, ohne die zugrundeliegenden Annahmen zu überprüfen - eben um das kosmologische Modell unter allen Umständen zu schützen. Einsteins "Kosmologische Konstante" war vielleicht ein anderes Beispiel - er führte die nach meinem Wissen ein, um einen Sachverhalt zu erklären, mit dessen anderer möglicher Erklärung (Expansion des Kosmos) er sich einfach gefühlsmäßig nicht einverstanden erklären konnte. Andererseits sind gerade die ART und SRT eines der besten Beispiele dafür, wie man durch die Bereitschaft, auf grundsätzlichster Ebene ein Problem neu anzugehen, revolutionär neue Lösungswege findet. Trotzdem: auch das heißt im absoluten Sinne nicht, daß ART und SRT der Weisheit letzter Schluß sind. Bekanntlich kann man ja nicht verifizieren, nur falsifizieren. Es heißt nur, daß wir noch nicht auf Fakten gestoßen sind, die diese Modelle eindeutig widerlegen und daher zu einem Umdenken ZWINGEN.
Meine Auffassung von wissenschaftlicher Arbeit ist aber, daß eben zuerst an der tiefstmöglichen Stelle nach der Lösung gesucht werden muß, und nicht an der Oberfläche... auch in der Wissenschaft besteht die Gefahr sonst Notlösungen für Spezialfälle aneinanderzuhängen. M.E. ist es sogar der Sinn der Wissenschaft, die richtige Stelle für die Überarbeitung zu finden, im Gegensatz zum schnellstmöglichen Erklärungsversuch, es ist das was Grundlagenarbeit von praktischer ergebnisorientierter Arbeit trennt.
Wir mögen heute mit der Astronomie wesentlich weiter sein. Aber es wird sehr schwer werden mir klarzumachen, daß genau dieser Fehler in der Astronomie aus diesem oder jenem Grunde heute nicht mehr auftauchen kann. Im Gegenteil dürfte dies eines der grundlegenden erkenntnistheoretischen Probleme - eben nicht nur in der Astronomie - sein.
All das ist natürlich meine eigene Meinung, ich könnte nicht einmal wissenschaftliche Quellen hierzu zitieren. Aber ich hoffe daß mein Ansatz halbwegs durchdacht ist, und harre gerne weiterer Diskussionen...
Freundliche Grüße,
Frankie
PS: Orbit, ich würde nicht jede Schnapsidee eingehend prüfen, aber mit einem guten Cognac am Kamin sind manche doch ein nettes Gedankenmodell und zumindest eine Überlegung nur zur Unterhaltung wert. Vielleicht dann auf einmal sogar mehr, kommt auf die Marke an... ;-)