Realistische und unrealistische Erwartungen an die aktuelle Forschung

ralfkannenberg

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Hallo zusammen,

ich habe den Eindruck (z.B. hier), dass hierzu verschiedene Ansichten bestehen, und ich denke auch, dass das völlig legitim ist und keinerlei "Wertung" bedarf.

Vielleicht aber haben wir Lust, uns hierzu einmal auszutauschen.


Freundliche Grüsse, Ralf
 

ralfkannenberg

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Hallo zusammen,

ich fange einmal mit einem nicht vorbelasteten Beispiel an: meine Ehefrau (promovierte theoretische Chemikerin) hat sich (aus welchen Gründen auch immer) mit der relativistischen kinetischen Energie beschäftigt und in ihrer Herleitung fehlte ein Faktor 1/2.

Auch wenn ich nicht allzuviel von der Wikipedia halte habe ich da einmal nachgeschaut, erst in der deutschen und dann in der englischen Wikipedia, und beide enthielten diesen Faktor 1/2, d.h. es war somit davon auszugehen, dass hier kein Typo vorlag.

Somit habe ich mich in die Niederungen der Herleitung herabgelassen und siehe da - da wurde eine Wurzel approximiert, für kleine x kann man da den Exponenten - bei der Quadratwurzel ist das 1/2 - als Faktor ausklammern und die Wurzel eliminieren.

Meine Frau war ganz begeistert, der Ehemann hat es wieder einmal gerichtet und der Fall war für sie erledigt und sie hat in ihrem Physikbuch weitergelesen.

Für mich aber fing die "Arbeit" nun erst an: gilt diese Näherung nur für einen Exponenten 1/2 ? Ziemlich trivial folgte, dass sie für alle ganzzahligen Exponenten z >= 2 und auch für alle Exponenten z <= -2 gilt, und ich hatte auch keinen Zweifel, dass das für alle reellen Koeffizienten in diesen beiden Bereichen gilt.

Trivial gilt das auch für z = 1, z= 0 und z = -1. Und auch weitgehend trivial für die Exponenten -1/2, 3/2 und -3/2.

Das "riecht" ja zum Himmel, dass es für alle reellen Exponenten und ggf. auch für alle komplexen Exponenten gilt. Vermutlich setzt man das mal für rationale Exponenten an und setzt das dann fort auf reelle und schliesslich komplexe Exponenten.


Ich will das nun nicht weiter ausführen, nur so viel: meine Frau konnte irgendwie nicht nachvollziehen, warum ich so viel Zeit in eine Fragestellung investiert habe, die für sie - nämlich die relativistische kinetische Energie, längst gelöst war. Und am wenigstens konnte sie nachvollziehen, dass mir die relativistische kinetische Energie völlig egal war; mich aber hat die Gültigkeit der Näherung interessiert und nicht irgendeine physikalische Anwendung davon. (*)

Wer hat nun recht: meine Ehefrau oder ich ? Irgendwie denke ich, wir beide, einfach mit unterschiedlichem Fokus. Und ja, natürlich bin ich dankbar, eine Frau zu haben, die sich auch in meinem Alter noch mit solchen Fragestellungen beschäftigt. - Im Büro sieht sowas ja ganz anders aus: da meinte ein Arbeitskollege in einem Meeting, sin(x) = 1/cos(x). Ehe ich denken konnte habe ich widersprochen und darauf hingewiesen, dass das für den Tangens und Cotangens gilt, aber nicht für den Sinus und Cosinus, d.h. tan(x) = 1/cot(x). Nun hat sich mein Chef eingemischt und meinte, das sollte vielleicht jemand beurteilen, der am nächsten an der Schule sei, so dass also unser Lehrling dazu befragt wurde. Der konnte sich aber nicht an solche "Details" erinnern. - Ich bitte um Nachsicht, dass meine nachfolgenden Kommentare in diesem Meeting zu diesem Thema nicht mehr druckreif waren, trotz aller meiner Bemühungen, die Beherrschung nicht zu verlieren. - Aber ja: bei einem Finanzzudienstleisterer interessiert sich niemand für einfache trigonometrische Funktionen, übrigens auch nicht für physikalische Einschränkungen: so reagierte ein Manager äusserst gereizt, als einer unserer Physiker ihn darauf hinwies, dass die Vorgaben für sein neuestes Projekt zur höhen Datengeschwindigkeit zwischen Zürich und Frankfurt zur Folge haben, dass diese Daten mit Überlichtgeschwindigkeit übermittelt werden - er sei an Lösungen und nicht an Problemen bzw. Hemmnissen interessiert.


Freundliche Grüsse, Ralf

(*) Wenn ich mich recht entsinne war es übrigens Newton, der diese Erweietrung des Gültigkeitsbereiches für diese Näherung schon vor einigen Jahrhunderten gelöst hat
 
Zuletzt bearbeitet:

Bernhard

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Auch wenn ich nicht allzuviel von der Wikipedia halte ...
Dazu hätte ich schon einen Kommentar in Form meiner eigenen Zielsetzung, die allerdings recht verbreitet sein sollte:

a) Die Wikipedia ist kein Ersatz für ein Lehrbuch.
b) Die Wikipedia vereint die Vorteile einer Enzyklopädie und eines Diskussionsforums und hat damit sehr wohl eine gute Existenzberechtigung.
c) Wikipedia hat dann ihr Ziel erreicht, wenn anhand der dort vorgestellten Informationen eine korrekte Entscheidung getroffen werden kann, ob eine tiefergehende Beschäftigung mit einer Fragestellung erforderlich ist.
 

Bernhard

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ich habe den Eindruck (z.B. hier), dass hierzu verschiedene Ansichten bestehen
Wissenschaft bedient natürlich unterschiedliche Erwartungen. Einigermaßen verbreitet ist dabei leider auch die Erwartung nach Aufmerksamkeit und Unterhaltung.

Daneben gibt es aber auch die viel tiefergehende Erwartung nach Orientierung in einer Welt, die auch durch das www teilweise recht unübersichtlich und manchmal auch extrem unberechenbar geworden ist. Interessant finde ich dabei, dass die Qualität eines wissenschaftlichen Textes oder eines an Wissenschaft orientierten Textes auch an dieser Erwartung gemessen werden kann.
 

Bernhard

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Aber ja: bei einem Finanzzudienstleisterer interessiert sich niemand für einfache trigonometrische Funktionen, übrigens auch nicht für physikalische Einschränkungen: so reagierte ein Manager äusserst gereizt, als einer unserer Physiker ihn darauf hinwies, dass die Vorgaben für sein neuestes Projekt zur höhen Datengeschwindigkeit zwischen Zürich und Frankfurt zur Folge haben, dass diese Daten mit Überlichtgeschwindigkeit übermittelt werden - er sei an Lösungen und nicht an Problemen bzw. Hemmnissen interessiert.
Lustige Anekdote, die einmal mehr an das Buch von I. Bachmann mit dem Titel "Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar" erinnert ;)
Vermutlich hat der Physiker dabei auch etwas über Marketing gelernt :ROFLMAO:
 
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