"Viele-Welten-Deutung"

Dgoe

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Ja gut,

dann mal mit Kontext:

Sie ist einerseits
ein Forschungsprogramm, keine Glaubenslehre.

und andererseits
es bleibt letztlich Glaubenssache.
weil
die Existenz oder nicht-Existenz der anderen "Welten" (...) aktuell nicht überprüfbar
ist.

Allerdings:
der Kollaps ist aktuell ebenfalls nicht falsifizierbar, da er geeignet postuliert wird

Allgemeiner:
Einfache Annahmen führen zu einer komplexen Ontologie; kompliziertere Annahmen führen zu einer einfacheren Ontologie. Da kannst du nichts prüfen, da musst du glauben ;-)


Das ist aber gerade der Punkt, das mit den Welten, denn, ob
Die Argumentation von Everett et al. (...) sowohl logisch als auch mathematisch absolut unanfechtbar
oder sogar
auch physikalisch unanfechtbar
ist, könnte ich auch gar nicht beurteilen.

Immerhin hast Du ja noch Schlupflöcher gelassen, so ganz absolut vodka unanfechtbar ist sie also doch nicht wirklich.

Gruß,
Dgoe
 

TomS

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OK, ich sehe ein, ich habe mich in der Argumentation tatsächlich immer wieder hin- und zurückbewegt. Ich versuche das nochmal geschlossen darzustellen. Schlupflöcher sind dabei immer kursiv dargestellt.

Zuerst zur Frage, was eine Interpretation der Quantenmechanik eigentlich ist. Die Antwort wäre wohl, eine Erklärung der Verbindung zwischen Formalismus und Realität, was ersterer sozusagen tatsächlich bedeutet. Wichtig ist dabei, dass es sich im engeren Sinne immer um den selben Formalismus handelt. Dabei gibt es die Extrembeispiele "shut up and calculate", d.h. der Formalismus liefert ein Rezept um experimentelle Phänomene zu berechnen, keine weitere Erklärung oder Interpretation, warum das funktioniert; sowie die "Everett-Interpretation", d.h. alles was der Formalismus vorhersagt, hat auch eine Entsprechung in der realen Welt, auch die "Verzweigungen". Das gilt auch für die orthodoxe Interpretation mit ihren unterschiedlichen Spielarten. Da die Formalismen und die berechneten Phänomene übereinstimmen, ist das zunächst mal Glaubenssache.

Die "shut up and calculate" Einstellung muss nicht weiter diskutiert werden. Sie liefert keinen Grund, an sie zu glauben, außer dass sie funktioniert.

Speziell beim Vergleich von orthodoxer Interpretation und Everett-Interpretation kommt ein zweiter Glaubensaspekt ins Spiel, nämlich die Frage der "philosophischen Prämissen" einer Theorie: glaubt man an das Prinzip von "Ockham's razor", dass eine Theorie minimale Annahmen treffen soll, die also sparsam hinsichtlich ihrer Axiomatik ist? oder glaubt man an eine Theorie, die ontologisch und epistemologisch sparsam ist, also genau das beschreibt, was wir auch sehen? Zitat: "Einfache Annahmen führen zu einer komplexen Ontologie; kompliziertere Annahmen führen zu einer einfacheren Ontologie". Ein weiterer Aspekt ist, welche Realität man dem Quantenzustand beimisst: repräsentiert er lediglich unser Wissen über die Realität (im Sinne des Positivismus), oder repräsentiert er die Realität selbst (im Sinne des Realismus / Platonismus). Man kann das alles nicht quantitativ gegeneinander abwägen, da sich die Argumentation auf zwei verschiedene Kategorien von Fragestellungen bezieht (was ist besser, Bayern München oder Ferrari?) Insofern haben wir es wieder mit einer Glaubenssache zu tun.

Nun zur Frage, warum wir an den Kollaps glauben dürfen (sehen wir mal von Alternativen zur etablierten QM ab, die den Formalismus tatsächlich so modifizieren, dass er den Kollaps vorhersagt; diese Alternativen sind bisher nicht erfolgreich, weil keine Modifikation des Formalismus bekannt ist, die in allen bekannte Situationen korrekte Vorhersagen macht). Wir dürfen an den Kollaps glauben, weil er genau so postuliert wird, dass er sowohl zum Kern des mathematischen Formalismus als auch zu den experimentellen Phänomenen passt. Der Kollaps hat dabei zwei Aspekte, nämlich zum einen die Interpretation, dass die Wellenfunktion kollabiert (real oder auch nur als Repräsentation unseres Wissens), sowie zum anderen die Bornsche Regel, die uns die Wahrscheinlichkeit des Kollapses in einen bestimmten Zustand zu berechnen erlaubt. Gehen wir mit einer bestimmten Glaubenseinstellung bzgl. Kollaps an die Theorie heran, dann müssen wir auch die Bornsche Regel akzeptieren.

Nun zur Frage, warum wir zunächst an die Everettsche Interpretation glauben dürfen. Nein, zuerst zur Frage, warum Interpretation jetzt kursiv geschrieben ist: weil es sich im engeren Sinne nicht nur um eine solche handelt! Die Everettsche Interpretation weicht nämlich an einer entscheidenden Stelle in ihrem mathematischen Kern von der Standard-Lehrbuch-Quantenmechanik ab, nämlich bei der Bornschen Regel. Da die Everettsche Interpretation keinen Kollaps beinhaltet, beinhaltet sie zunächst auch keine Wahrscheinlichkeiten und demzufolge auch keine Bornsche Regel. Der Formalimus bzw. die Axiomatik ist demnach schlanker, die Ontologie entsprechend komplexer. Zurück zur ersten Frage. Wir dürfen an die Everettsche Interpretation glauben, weil sie zunächst mal identische Aussagen liefert wie die orthodoxe Interpretation (Kollaps, Bohr, Bornsche Regel, von-Neumann, ...). Dabei postuliert sie nichts weiter, als die umfassende und strenge Gültigkeit des Formalismus im engeren Sinn, d.h. ohne Kollaps und ohne Bornsche Regel. Zitat: "Die Argumentation von Everett et al. ... ist sowohl logisch als auch mathematisch absolut unanfechtbar". Everett behauptet nur, dass es für die Gültigkeit der Schrödingergleichung keine Ausnahme gibt (während der Kollaps eine solche wäre).

Beide Ansätze sind zunächst an einer Stelle vergleichbar, sie immunisieren sich sozusagen selbst: die orthodoxe Intepretation postuliert einen rätselhaften Kollaps, die Everettsche Interpretation die Existenz der verschiedenen, wechselweise unsichtbaren Zweige. Zitat: "der Kollaps ist aktuell ebenfalls nicht falsifizierbar, da er geeignet postuliert wird"; und: "die Existenz oder nicht-Existenz der anderen [Zweige] ist aktuell nicht überprüfbar". Daher auch: "[Die Existenz der verschiedenen wechselweise unsichtbaren Zweige ist] auch physikalisch unanfechtbar". Den wir können ihre Existenz oder nicht-Existenz nicht beweisen bzw. widerlegen, da sie genau so angelegt sind, dass sie uns experimentell unzugänglich sind.

Bis hierher "bleibt es letztlich Glaubenssache".

Und nun kommt die große Kehrtwende.

Eigtl. müsste ich ab jetzt praktisch alleskursiv schreiben, denn nun kommen wir zu den Schlupflöchern. Zunächst zu den (subtilen) Unterschieden:
1) Die Everettsche Interpretation ist keine reine Interpretation des selben Formalismus, sondern sie basiert auf einem leicht abweichenden Formalismus, sie verzichtet nämlich auf die Bornsche Regel als Axiom.
2) Da die Everettsche Interpretation auf den Kollaps verzichtet, muss sie anderseits die verschieden Zweige als real annehmen; d.h. während der Kollaps und die Bornsche Regel Zutaten zum Kern des Formalimus sind, verneint die Everettsche Interpretation einen derartigen Zusatz.
3) Umgekehrt sind die verschiedenen Zweige demzufolge eine formale und logische Konsequenz der Theorie, an die man nicht glauben kann, oder die man ablehnen kann; man muss sie akzeptieren!
4) Die Everettsche Interpretation ist axiomatisch schlanker im Sinne von Ockham's razor, und sie ist logisch geschlossener als die orthodoxe Interpretation.
5) Die Everettsche Interpretation ist dabei noch nicht physikalisch überlegen, denn diese Unterschiede sind zunächst nicht überprüfbar im Sinne der Physik.

In Punkt (4) deutet sich an, warum es sich nicht mehr um eine reine Glaubenssache handelt. Wenn ich an die Everettsche Axiomatik ohne Bornsche Regel glaube, dann folgen die vielen Welten zwingend. Letzteres ist dann keine Glaubenssache mehr!

Nun zum Schluss der Kehre, dass nämlich "ein Forschungsprogramm, keine Glaubenslehre" vorliegt, weswegen "ich dafür plädiere, die Everettsche Interpretation als Arbeitshypothese anzunehmen und die Konsequenzen ... zu untersuchen".
A) Die Everettsche Interpretation verzichtet auf die Bornsche Regel. Das ist aber nicht so einfach, denn diese funktioniert ja im Kontext der orthodoxen Interpretation ganz hervorragend, sie ist also im Sinne der Physik und der experimentellen Überprüfbarkeit richtig. D.h. die Bornsche Regel muss - zumindest näherungsweise - als Theorem aus dem Kern des Formalismus beweisbar sein.
B) Die Everettsche Interpretation verzichtet auf den Kollaps und akzeptiert die reale Existenz wechselweise unsichtbarer Zweige. Das bedeutet jedoch, dass die wechselweise Unsichtbarkeit aus dem Formalismus ableitbar sein muss. Dies ist letztlich die Untersuchung der Dekohärenz (die für sich alleine auch im Kontext einer Kollapsinterpretation vernünftig und richtig sein kann)
C) Die Everettsche Interpretation ist zumindest prinzipiell experimentell falsifizierbar, in dem man ein beliebiges Experiment exakt zeitlich rückwärts ablaufen lässt. Gemäß Everett liegt exakte Zeitsymmetrie vor, gemäß Kollaps nicht. Präpariert man also einen nicht-klassischen Überlangerungszustand, so müsste dieser gemäß Everett nach einem Unsichtbarwerden bestimmt Zweige im Zuge einer Messung anschließend exakt wieder entstehen, wenn die Zweige bei Zeitumkehr wieder sichtbar werden. Gemäß Kollapsinterpretation ist der Kollaps jedoch unumkehrbar, d.h. die Zeitumkehr kann keine Zweige sichtbar werden lassen, da diese tatsächlich vernichtet wurden. Als Konsequenz kann der Überlagerungszustand nicht wieder entstehen.

Die Everettsche Interpretation immunisiert sich demnach weniger stark das die orthodoxe Interpretation, da sie Postulate (Kollaps, Bornsche Regel) durch Theoreme (wechselweise Unsichtbarkeit, Bornsche Regel) ersetzt, und da sie evtl. die Möglichkeit einer Falsifizierung bietet.
 

ralfkannenberg

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Immerhin hast Du ja noch Schlupflöcher gelassen, so ganz absolut vodka unanfechtbar ist sie also doch nicht wirklich.
Hallo Dgoe,

das mit den "Voraussetzungen" war keine Schikane: für beide gibt es ein Set von Voraussetzungen, die man als gültig annimmt.

Nun stellt sich die Frage, welches Set man nimmt, d.h. wie man die Voraussetzungen bewertet. Meistens wird man dabei ein minimales Set verwenden, weil man eine Theorie für "besser" hält, wenn sie mit weniger Voraussetzungen auskommt.

Und die Wahl der Voraussetzungen bzw. der Bewertungskriterien für die Voraussetzungen führt dann zu den unterschiedlichen Interpretationen. Und es ist enorm wichtig, dass einem das bewusst ist, denn sonst redet man permanent am Thema vorbei.


Freundliche Grüsse, Ralf
 

Dgoe

Gesperrt
Hallo Tom,

sehr schön nachvollziehbar erklärt, merci !

Ausser abzuwarten, dass irgendwas mal falsifiziert wird, fällt mir nicht groß etwas ein, was man da tun könnte, außer, dass ich für meinen Teil mich wieder mehr der Lektüre von Details widmen möchte, was anhand Deiner sortierten Vorlage sehr gut strukturierbar sein dürfte.
Dies am Besten zeitnah, um hier Fragen stellen zu können, solange der Thread noch alive ist.

+@Ralf:
Welche Voraussetzungen/Annahmen es gibt und wie sie ineinander greifen, ist ja mittlerweile etwas deutlicher geworden.
Jedoch interessieren mich ebenso und durchaus immer noch die Konsequenzen (wie auch dem TO).

Kann die jemand ungefähr in Zahlen ausdrücken? Also für die Menge an fortlaufenden Kombinationsmöglichkeiten seit 13.8 Milliarden Jahren nur auf das beobachtbare Universum beschränkt. Oder dessen Menge innerhalb eines Jahres?

Darf ruhig um ein paar Trilliarden Größenordnungen ungenau sein, nur für eine erste Vorstellung.

Woraus sich auch meine Kritik erklärt, dass ein Axiom zu wenig (oder weniger), die Welt nicht unbedingt besser erklärt - dafür dann jede Menge Welten lustigerweise...

Gruß,
Dgoe
 

TomS

Registriertes Mitglied
Danke für das Lob.

Zum Thema Wahrscheinlichkeit, Bornsche Regel und verwandte Themen im Kontext der Everett-Interpretation verweise ich bzgl. Fachliteratur auf Wallace: http://users.ox.ac.uk/~mert0130/papers.shtml Ob's da auch einfavhere Darstellungen gibt, kann ich ggw. so nicht sagen.

Nicht schlecht ist auch Zehs Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?, wobei mit da manchmal die Klarheit fehlt - die such auch in der Diskussion nicht immer einstellt.

Zum Thema der Dekohärenz verweise ich auf Schlossauer: http://faculty.up.edu/schlosshauer/index.php?page=pub
 

void

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Hallo,

mal wieder eine unqualifizierte Zwischenfrage:

die Everettsche Interpretation die Existenz der verschiedenen, wechselweise unsichtbaren Zweige. ... Die Everettsche Interpretation verzichtet auf den Kollaps und akzeptiert die reale Existenz wechselweise unsichtbarer Zweige..

Ich gehe davon aus, dass mit wechselseitig unsichtbar gemeint ist, dass es nicht nur technisch bedingt, sondern grundsätzlich nicht möglich ist, Informationen vom jeweils anderen Zweig zu erhalten.

Inwiefern macht es überhaupt Sinn, von "Existenz" des anderen Zweigs zu sprechen? Ich halte das für fragwürdig. Man postuliert die Existenz von etwas, das sich per Definitionem ausserhalb dieses Universums befindet? Natürlich ist das Glaubenssache, wie schon gesagt wurde; gleichwertig mit beliebigem Theismus, oder Fliegendem Spaghetti-Monster. Meine Frage ist hier: Wie qualifizieren Physiker diesen Existenzbegriff der Everettschen Interpretation? Kann man unter der Annahme, diese würde zutreffen, die "Existenz anderer Zweige" annehmen? Ich würde (aus sprachlich / logischen Gründen) eher sagen, die Existenz oder Nicht-Existenz anderer Zweige ist vollkommen undefiniert, es ist unsinnig, darüber Aussagen treffen zu wollen.

Grüße
void
 

TomS

Registriertes Mitglied
Ich gehe davon aus, dass mit wechselseitig unsichtbar gemeint ist, dass es nicht nur technisch bedingt, sondern grundsätzlich nicht möglich ist, Informationen vom jeweils anderen Zweig zu erhalten.
Die Begründung ist die Dekohärenz. Zweige sind letztlich soetwas wie "Unteräume des Gesamthilbertraumes"; wenn ein Elektron durch einen Doppelspalt geht, dann resultieren daraus zwei Zweige, die miteinander interferieren können und somit füreinander sichtbar sind; wenn ein Quantensystem mit einem makroskopischen System (Apparat + Experiment + Labor) wechselwirkt, dann resultieren daraus Zweige (die insbs. den klassischen "Zeigerzustände " des Apparates entsprechen) die durch Dekohärenz wechselweise unsichtbar sind.

Ich weiß nicht, ob das jetzt zu deiner Vorstellung von "technisch" oder "grundsätzlich" passt. Es handelt sich jedenfalls um eine weithin akzeptierte mathematische Schlussfolgerung, nicht um ein neues Postulat. Und die Schlussfolgerung gilt unabhängig von der Akzeptanz der Vielen Welten.


TomS schrieb:
die Everettsche Interpretation die Existenz der verschiedenen, wechselweise unsichtbaren Zweige. ... Die Everettsche Interpretation verzichtet auf den Kollaps und akzeptiert die reale Existenz wechselweise unsichtbarer Zweige..
Ich sagte, man akzeptiert​ die Existenz der Zweige ...

Inwiefern macht es überhaupt Sinn, von "Existenz" des anderen Zweigs zu sprechen? Ich halte das für fragwürdig. Man postuliert die Existenz von etwas, das sich per Definitionem ausserhalb dieses Universums befindet? Natürlich ist das Glaubenssache, wie schon gesagt wurde; gleichwertig mit beliebigem Theismus, oder Fliegendem Spaghetti-Monster. Meine Frage ist hier: Wie qualifizieren Physiker diesen Existenzbegriff der Everettschen Interpretation? Kann man unter der Annahme, diese würde zutreffen, die "Existenz anderer Zweige" annehmen? Ich würde (aus sprachlich / logischen Gründen) eher sagen, die Existenz oder Nicht-Existenz anderer Zweige ist vollkommen undefiniert, es ist unsinnig, darüber Aussagen treffen zu wollen.
Du behauptest, man postuliert, die Existenz der Zweige. Das ist falsch. Sie werden nicht postuliert, künstlich eingeführt, ... Sie sind eine präzise, mathematische Schlussfolgerung des Formalismus; sie sind automatisch enthalten, und sie werden allgemen akzeptiert, sofern es um den Mikrokosmos geht (das Doppelspaltexperiment enthält ebenfalls solche Zweige, nur dass sie eben nicht makroskopisch sichtbar werden).

Die Akzeptanz dieser Zweige ist deutlich besser zu rechtfertigen, als du es in deinen (leicht polemischen) Aussagen andeutest. Sie befinden sich nicht außerhalb unseres Universums, und das Univesum spaltet sich auch nicht in mehrere Universen auf. Das Universum "ist" ein Quantenzustand, und der weist unter bestimmten Bedingungen diese "Verzweigungsstruktur" auf. Es handelt sich nicht um Theismus, Spaghettimonster usw.

Die Existenz der Zweige ist absolut präzise definiert (besser gesagt: die Existenz der Gesamtheit aller Zweige ist präzise definiert); es handelt sich einfach um die Wellenfunktion ohn deren Kollaps. Die Wellenfunktion eines makroskopischen Systems entsricht der Gesamtheit aller Zweige. Mehr nicht.

Die Idee ist einfach: wir haben eine (insbs. im Falle der Quantenmechanik) umfassend akzeptierte und hochpräzise Theorie. Diese beschreibt experimentell sichtbare Phänomene. Und sie sagt weitere, aktuell noch nicht sichtbar und prinzipiell unsichtbare Phänomene voraus: das Innere des Ereignishorizontes schwarzer Löcher, ein unendlich ausgedehntes Universum jenseits des Sichtbarkeitshorizontes, Quantenverschränkung die wir auch nicht sehen und auf deren Existenz wir ledglich aufgrund anderer Phänomene zurückschließen, Quarks und Gluonen die prinzipiell in den Nukleonen "confined" und als isolierte Teilchen prinzipiell unbeobachtbar sind, Positronen die Dirac aufgrund der zusätzlichen Lösung seiner Gleichung einführte, Neutrinos auf deren Existenz Pauli aufgrund des Energieerhaltungssatzes schloss, das top-Quark dessen Existenz aus der Anomalienfreiheit des Standardmodells folgen muss, ...

Anstatt nun einen physikalisch fragwürdigen und ebenfalls unsichtbaren Kollaps zu postulieren, akzeptiert man die präzisen Schlussfolgerungen der Theorie.

EDIT: Ich hab' das schon mehrfach betont: man kann die Everettsche Interpretation ablehnen, aber man sollte das nicht aufgrund falscher Annahmen bzgl. dessen tun, was die Everettsche Interpretation tatsächlich ausmacht. Sie postuliert rein axiomatisch nicht mehr, sondern weniger als jede andere Interpretation; sie ist rein formal bzw. axiomatisch eine Untermenge der orthodoxen Interpretation; sie verzichtet auf Annahmen wie Projektionspostulat, Kollaps, Repräsentation des Quantensystems als Information oder Wissen als in Form der Wellenfunktion; sie verzichtet auf die Sonderrolle des Beobachters, ... Die Everettsche Interpretation besagt letztlich folgendes: Wir haben da einen mathematischen Formalismus der perfekt funktioniert, also nehmen wir ihn ernst; wir lassen nichts weg, wir fügen aber auch nichts künstlich dazu, und wir nehmen an, dass er die Natur korrekt repräsentiert. Das tut jede andere physikalische Theorie auch, nur in der QM sträubt man sich dagegen, weil die Konsequenzen unanschaulich sind.
 
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void

Registriertes Mitglied
Hallo TomS,

danke für deine geduldiege Erklärung bzw., in meinem Fall, Erklärungsversuch :)

Vorweg: a) polemisch wollte ich nicht sein - wenn das so klang war es nicht so gemeint. b) postulieren, akzeptieren, behaupten etc.: spielt keine große Rolle, wenn es um das Konzept als solches geht, man übersehe bitte wohlwollend meine Schludrigkeit (mathematische Folgerungen sind natürlich eine andere Qualität).

Ok, ich kann halt nicht mehr richtig folgen, ich bin ja auch kein Mathematiker oder Physiker. Na gut, also die VWI besagt, dass sich die Welt verzweigt, bzw. Verzweigungsstrukturen aufweist, wie du erklärst - also ich dachte, die VWI handelt schon von makroskopischen "Zweigen" also beliebig vielen "Entitäten" der Welt. Die wären also gegenseitig unsichtbar wie du oben erläutert hast. Oder findet nur ein sub-atomarer "Quanten-Verzweigungsbrei" statt, und es gäbe keine viele Welten im VWI-Makrokosmos? Wenn ja, wäre damit vielleicht mein Misverständnis aufgelöst.

Grüße
void
 

TomS

Registriertes Mitglied
postulieren, akzeptieren, behaupten etc.: spielt keine große Rolle, wenn es um das Konzept als solches geht
doch, das spielt eine wesentliche Rolle; wenn du die Bedeutungsunterschiede verwischst, können wir aufhören zu diskutieren; es ist ein Unterschied, ob ich einen etablierten Formalismus nutze, um eine Aussage A mathematisch streng ableite, oder ob ich A einfach ohne weitere Begründung postuliere;

das hat auch nichts mit diesem speziellen Thema zu tun

den Rest deines Beitrages verstehe ich nicht so recht; vielleicht soviel: es geht in der VWI nicht speziell um mikroskopische oder makroskopische Zweige; die Theorie sucht das das nicht heraus, sondern sie liefert ein mathematisches Resultat; wenn ein Elektron in einem Doppelspaltexperiment durch beide Spalten gleichzeitig geht, also "zwei Zweige entstehen" und wenn es mit sich selbst inteferiert, also "diese beiden Zweige wechselweise sichtbar bleiben", dann haben wir das seit Jahrzehnten akzeptiert; wenn nun dieselben beiden Zweige mit einem makroskopischen Messgerät wechselwirken und dadurch ihre Interferenzfähigkeit verlieren, dann besagt die Dekohärenz, dass beide Zweige wechselweise unsichtbar werden; bis hierher stimmen alle Interpretationen im Wesentlichen überein; während die orthodoxe Interpretation nun das Verschwinden eines Zweiges, d.h. den Kollaps ohne weitere Erklärung fordert, akzeptiert die VWI die Existenz beider Zweige genauso wie oben im Falle des interferierenden Elektrons; sie sagt letztlich, dass es keinen fundamentalen Untschied im mathematischen Formalismus gibt, und dass daher auch kein Unterschied bei den Interoretationen existieren sollte
 
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Dgoe

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Hallo,

mir ist aufgefallen, dass es scheinbar auch an anderer Stelle ebenso einen Formalismus gibt, der für gewöhnlich prima Ergebnisse liefert, aber dennoch an entscheidenen Stellen zumindest unsinnige Ergebnisse liefert, wenn ich das richtig verstanden habe.

Die Rede ist von Singularitäten. An dessen Punkt die Formalismen unendliche Temperatur und Dichte berechnen, wie ein Indiz dafür, dass uns Formeln wohl fehlen, den Zustand im Inneren eines schwarzen Lochs oder des Urknalls korrekt zu beschreiben.

So gesehen, warum sollte man hier dem Formalismus blind folgen, liefert er doch ähnlich schwer Nachvollziehbares.

Gruß,
Dgoe
 
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TomS

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Das kann man absolut nicht vergleichen

1) Im Falle der Singularitäten versagt der mathematische Formalismus; im Falle der VWI bleibt der mathematische Formalismus exakt gültig
2) Im Falle der Singularitäten wissen wir nicht, wie wir heute nicht, wie wir diese beschreiben sollen; im Falle QM wissen wir, dass Quantenobjekt, Messgerät, Beobachter usw. exakt den selben qm Regeln folgen wie das zu messende Phänomen selbst
3) Im Falle der QM war es bisher immer so, dass unanschauliche Konsequenzen sich als korrekt erwiesen haben
4) Im Falle der ART versagt die Theorie, im Falle der VWI lediglich unser Vorstellungsvermögen

Nochmal: es gibt bisher keinen physikalischen oder mathematischen Grund, die VWI abzulehnen. Der einzige tatsächlich existierende Grund ist, dass du ihre Konsequenzen nicht magst. Das ist aber - im Gegensatz zu Konsequenzen der ART - keine physikalisch sinnvolle Argumentation. Daher sollte man mit der QM/VWI genauso umgehen wie mit jeder anderen Theorie und deren Vorhersagen auch; man sollte versuchen, sie (experimentell oder theoretisch/mathematisch) zu falsifizieren.

Jeder, der sie einfach ablehnt, verpasst die Chance, einen wissenschaftlich relevanten Beitrag zu leisten. Dass viele sie nicht mögen nacht sie nicht wahr oder falsch. Wenn noch ein paar Meinungen dazukommen, wird sie nicht wahrer oder falscher.
 

Dgoe

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Man soll ja nicht Äpfeln mit Birnen vergleichen. Dabei geht das hervorragend, besonders wegen der vielen Gemeinsamkeiten.
 

TomS

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Man soll ja nicht Äpfeln mit Birnen vergleichen. Dabei geht das hervorragend, besonders wegen der vielen Gemeinsamkeiten.
Ich denke, ich habe ausführlich erklärt, das es keine Gemeinsamkeiten gibt. Also Äpfel und Birnen; oder besser: Erdbeeren und Lampions ;-)
 

RPE

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An dieser Stelle sind sicherlich einige der Experimente aus der Quantenoptik, die Tom auch schon mal kurz erwaehnte, hilfreich, um das Ganze etwas "praxisorientierter" diskutieren zu koennen.

Ein sehr schoenes solches, wie ich finde, ist der Quantenradierer
http://de.wikipedia.org/wiki/Quantenradierer

Dort ist es allerdings nicht wirklich so dolle beschrieben. Spektrum der Wissenschaft hat einen gut geschriebenen Artikel (Ausgabe Feb 2004) dazu, der aber leider nicht mehr frei verfuegbar ist. Das einzige, was ich noch fand, was dem nahe kommt, ist das hier

http://www.wissenschaft-online.de/pdf/sdw-07-07-s068-pdf/877069?file

Vereinfachte Kurzfassung:
- Erweiterter Doppelspaltversuch
- "Messung" der "welcher-Weg" Information mit Hilfe von optischen Polarisationselementen
(mit der Folge des Vernichtens des typischen Doppelspaltexperiment-Interferenzmusters)
- wieder rueckgaengig machen der "welcher-Weg-Messung" mit ebensolchen Polarisationselementen (mit der Folge des Wiedererscheinens des Interferenzmusters)

Klar, die von Tom angesprochenen Schlupfloecher sind auch in der Interpretation dieses Experiments vorhanden, aber meiner Meinung nach erscheint es reichlich starrsinnig, selbst hier immer weiter an der Kopenhagener Deutung (Kollaps und das nicht Zugestehen einer Realitaet der Wellenfunktion an sich) festzuhalten.
 
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