OK, ich sehe ein, ich habe mich in der Argumentation tatsächlich immer wieder hin- und zurückbewegt. Ich versuche das nochmal geschlossen darzustellen. Schlupflöcher sind dabei immer kursiv dargestellt.
Zuerst zur Frage, was eine Interpretation der Quantenmechanik eigentlich ist. Die Antwort wäre wohl, eine Erklärung der Verbindung zwischen Formalismus und Realität, was ersterer sozusagen tatsächlich bedeutet. Wichtig ist dabei, dass es sich im engeren Sinne immer um den selben Formalismus handelt. Dabei gibt es die Extrembeispiele "shut up and calculate", d.h. der Formalismus liefert ein Rezept um experimentelle Phänomene zu berechnen, keine weitere Erklärung oder Interpretation, warum das funktioniert; sowie die "Everett-Interpretation", d.h. alles was der Formalismus vorhersagt, hat auch eine Entsprechung in der realen Welt, auch die "Verzweigungen". Das gilt auch für die orthodoxe Interpretation mit ihren unterschiedlichen Spielarten. Da die Formalismen und die berechneten Phänomene übereinstimmen, ist das zunächst mal Glaubenssache.
Die "shut up and calculate" Einstellung muss nicht weiter diskutiert werden. Sie liefert keinen Grund, an sie zu glauben, außer dass sie funktioniert.
Speziell beim Vergleich von orthodoxer Interpretation und Everett-Interpretation kommt ein zweiter Glaubensaspekt ins Spiel, nämlich die Frage der "philosophischen Prämissen" einer Theorie: glaubt man an das Prinzip von "Ockham's razor", dass eine Theorie minimale Annahmen treffen soll, die also sparsam hinsichtlich ihrer Axiomatik ist? oder glaubt man an eine Theorie, die ontologisch und epistemologisch sparsam ist, also genau das beschreibt, was wir auch sehen? Zitat: "Einfache Annahmen führen zu einer komplexen Ontologie; kompliziertere Annahmen führen zu einer einfacheren Ontologie". Ein weiterer Aspekt ist, welche Realität man dem Quantenzustand beimisst: repräsentiert er lediglich unser Wissen über die Realität (im Sinne des Positivismus), oder repräsentiert er die Realität selbst (im Sinne des Realismus / Platonismus). Man kann das alles nicht quantitativ gegeneinander abwägen, da sich die Argumentation auf zwei verschiedene Kategorien von Fragestellungen bezieht (was ist besser, Bayern München oder Ferrari?) Insofern haben wir es wieder mit einer Glaubenssache zu tun.
Nun zur Frage, warum wir an den Kollaps glauben dürfen (sehen wir mal von Alternativen zur etablierten QM ab, die den Formalismus tatsächlich so modifizieren, dass er den Kollaps vorhersagt; diese Alternativen sind bisher nicht erfolgreich, weil keine Modifikation des Formalismus bekannt ist, die in allen bekannte Situationen korrekte Vorhersagen macht). Wir dürfen an den Kollaps glauben, weil er genau so postuliert wird, dass er sowohl zum Kern des mathematischen Formalismus als auch zu den experimentellen Phänomenen passt. Der Kollaps hat dabei zwei Aspekte, nämlich zum einen die Interpretation, dass die Wellenfunktion kollabiert (real oder auch nur als Repräsentation unseres Wissens), sowie zum anderen die Bornsche Regel, die uns die Wahrscheinlichkeit des Kollapses in einen bestimmten Zustand zu berechnen erlaubt. Gehen wir mit einer bestimmten Glaubenseinstellung bzgl. Kollaps an die Theorie heran, dann müssen wir auch die Bornsche Regel akzeptieren.
Nun zur Frage, warum wir zunächst an die Everettsche Interpretation glauben dürfen. Nein, zuerst zur Frage, warum Interpretation jetzt kursiv geschrieben ist: weil es sich im engeren Sinne nicht nur um eine solche handelt! Die Everettsche Interpretation weicht nämlich an einer entscheidenden Stelle in ihrem mathematischen Kern von der Standard-Lehrbuch-Quantenmechanik ab, nämlich bei der Bornschen Regel. Da die Everettsche Interpretation keinen Kollaps beinhaltet, beinhaltet sie zunächst auch keine Wahrscheinlichkeiten und demzufolge auch keine Bornsche Regel. Der Formalimus bzw. die Axiomatik ist demnach schlanker, die Ontologie entsprechend komplexer. Zurück zur ersten Frage. Wir dürfen an die Everettsche Interpretation glauben, weil sie zunächst mal identische Aussagen liefert wie die orthodoxe Interpretation (Kollaps, Bohr, Bornsche Regel, von-Neumann, ...). Dabei postuliert sie nichts weiter, als die umfassende und strenge Gültigkeit des Formalismus im engeren Sinn, d.h. ohne Kollaps und ohne Bornsche Regel. Zitat: "Die Argumentation von Everett et al. ... ist sowohl logisch als auch mathematisch absolut unanfechtbar". Everett behauptet nur, dass es für die Gültigkeit der Schrödingergleichung keine Ausnahme gibt (während der Kollaps eine solche wäre).
Beide Ansätze sind zunächst an einer Stelle vergleichbar, sie immunisieren sich sozusagen selbst: die orthodoxe Intepretation postuliert einen rätselhaften Kollaps, die Everettsche Interpretation die Existenz der verschiedenen, wechselweise unsichtbaren Zweige. Zitat: "der Kollaps ist aktuell ebenfalls nicht falsifizierbar, da er geeignet postuliert wird"; und: "die Existenz oder nicht-Existenz der anderen [Zweige] ist aktuell nicht überprüfbar". Daher auch: "[Die Existenz der verschiedenen wechselweise unsichtbaren Zweige ist] auch physikalisch unanfechtbar". Den wir können ihre Existenz oder nicht-Existenz nicht beweisen bzw. widerlegen, da sie genau so angelegt sind, dass sie uns experimentell unzugänglich sind.
Bis hierher "bleibt es letztlich Glaubenssache".
Und nun kommt die große Kehrtwende.
Eigtl. müsste ich ab jetzt praktisch alleskursiv schreiben, denn nun kommen wir zu den Schlupflöchern. Zunächst zu den (subtilen) Unterschieden:
1) Die Everettsche Interpretation ist keine reine Interpretation des selben Formalismus, sondern sie basiert auf einem leicht abweichenden Formalismus, sie verzichtet nämlich auf die Bornsche Regel als Axiom.
2) Da die Everettsche Interpretation auf den Kollaps verzichtet, muss sie anderseits die verschieden Zweige als real annehmen; d.h. während der Kollaps und die Bornsche Regel Zutaten zum Kern des Formalimus sind, verneint die Everettsche Interpretation einen derartigen Zusatz.
3) Umgekehrt sind die verschiedenen Zweige demzufolge eine formale und logische Konsequenz der Theorie, an die man nicht glauben kann, oder die man ablehnen kann; man muss sie akzeptieren!
4) Die Everettsche Interpretation ist axiomatisch schlanker im Sinne von Ockham's razor, und sie ist logisch geschlossener als die orthodoxe Interpretation.
5) Die Everettsche Interpretation ist dabei noch nicht physikalisch überlegen, denn diese Unterschiede sind zunächst nicht überprüfbar im Sinne der Physik.
In Punkt (4) deutet sich an, warum es sich nicht mehr um eine reine Glaubenssache handelt. Wenn ich an die Everettsche Axiomatik ohne Bornsche Regel glaube, dann folgen die vielen Welten zwingend. Letzteres ist dann keine Glaubenssache mehr!
Nun zum Schluss der Kehre, dass nämlich "ein Forschungsprogramm, keine Glaubenslehre" vorliegt, weswegen "ich dafür plädiere, die Everettsche Interpretation als Arbeitshypothese anzunehmen und die Konsequenzen ... zu untersuchen".
A) Die Everettsche Interpretation verzichtet auf die Bornsche Regel. Das ist aber nicht so einfach, denn diese funktioniert ja im Kontext der orthodoxen Interpretation ganz hervorragend, sie ist also im Sinne der Physik und der experimentellen Überprüfbarkeit richtig. D.h. die Bornsche Regel muss - zumindest näherungsweise - als Theorem aus dem Kern des Formalismus beweisbar sein.
B) Die Everettsche Interpretation verzichtet auf den Kollaps und akzeptiert die reale Existenz wechselweise unsichtbarer Zweige. Das bedeutet jedoch, dass die wechselweise Unsichtbarkeit aus dem Formalismus ableitbar sein muss. Dies ist letztlich die Untersuchung der Dekohärenz (die für sich alleine auch im Kontext einer Kollapsinterpretation vernünftig und richtig sein kann)
C) Die Everettsche Interpretation ist zumindest prinzipiell experimentell falsifizierbar, in dem man ein beliebiges Experiment exakt zeitlich rückwärts ablaufen lässt. Gemäß Everett liegt exakte Zeitsymmetrie vor, gemäß Kollaps nicht. Präpariert man also einen nicht-klassischen Überlangerungszustand, so müsste dieser gemäß Everett nach einem Unsichtbarwerden bestimmt Zweige im Zuge einer Messung anschließend exakt wieder entstehen, wenn die Zweige bei Zeitumkehr wieder sichtbar werden. Gemäß Kollapsinterpretation ist der Kollaps jedoch unumkehrbar, d.h. die Zeitumkehr kann keine Zweige sichtbar werden lassen, da diese tatsächlich vernichtet wurden. Als Konsequenz kann der Überlagerungszustand nicht wieder entstehen.
Die Everettsche Interpretation immunisiert sich demnach weniger stark das die orthodoxe Interpretation, da sie Postulate (Kollaps, Bornsche Regel) durch Theoreme (wechselweise Unsichtbarkeit, Bornsche Regel) ersetzt, und da sie evtl. die Möglichkeit einer Falsifizierung bietet.