|
Kosmologisches Standardmodell auf dem Prüfstand
Redaktion
/ Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Astrophysik astronews.com
28. Juli 2023
Ein internationales Astrophysik-Team hat den ehrgeizigen
Versuch unternommen, gleichzeitig die Entstehung von Galaxien und die
großräumige Struktur im Kosmos in großen Regionen des Weltalls zu simulieren.
Die Simulationen berücksichtigen zudem die geisterhaften Neutrinos und könnten
dazu beitragen, die Masse dieser Elementarteilchen einzugrenzen.

Projektionen von Gas (oben links), Dunkler
Materie (oben rechts) und Sternenlicht (unten Mitte) für eine
Scheibe in der größten hydrodynamischen Simulation von
MillenniumTNG zur gegenwärtigen Epoche. Der Ausschnitt ist
etwa 35 Millionen Lichtjahre dick. Die Projektionen zeigen die
enormen physikalischen Größenordnungen in der Simulation, von
der maximalen Simulationsgröße, etwa 2400 Millionen
Lichtjahre, bis zu einer einzelnen Spiralgalaxie (letzte,
runde Vergrößerung) mit einem Radius von ~150 000 Lichtjahren.
Die zugrundeliegende Berechnung ist die derzeit größte
hochauflösende hydrodynamische Simulation der
Galaxienentstehung und enthält mehr als 160 Milliarden
Auflösungselemente.
Bild:
MPA [Großansicht] |
In der Kosmologie hat sich in den letzten Jahrzehnten die zunächst
verblüffende Annahme etabliert, dass die Materie im Universum von einer
rätselhaften "Dunklen Materie" dominiert wird und dass ein noch seltsameres Feld
aus "Dunkler Energie" als eine Art Anti-Schwerkraft wirkt, und die Expansion des
heutigen Kosmos beschleunigt. Die gewöhnliche baryonische Materie trägt mit
weniger als fünf Prozent zum kosmischen Gemisch bei, dennoch bildet sie die
Grundlage für die Sterne und Planeten in Galaxien wie unserer eigenen
Milchstraße.
Dieses kosmologische Modell wird LCDM genannt, oder auch Lambda-CDM. Der
griechische Buchstabe Lambda steht dabei für die kosmologische Konstante, CDM
für "cold dark matter", also "kalte dunkle Materie". Es liefert eine hartnäckig
erfolgreiche Beschreibung einer Vielzahl von Beobachtungsdaten: von der
kosmischen Mikrowellenstrahlung – der Restwärme, die der heiße Urknall
hinterlassen hat – bis hin zum "kosmischen Netz", in dem die Galaxien entlang
eines verschlungenen Netzes mit Filamenten aus Dunkler Materie angeordnet sind.
Die tatsächliche physikalische Natur der Dunklen Materie und der Dunklen Energie
ist jedoch immer noch nicht verstanden, weshalb Astrophysiker und
Astrophysikerinnen nach Defiziten in der LCDM-Theorie suchen.
Fänden sich Ungereimtheiten im Vergleich zu Beobachtungsdaten so könnte dies
zu einem besseren Verständnis dieser grundlegenden Rätsel unseres Universums
führen. Empfindliche Tests sind erforderlich, die beides brauchen:
aussagekräftige neue Beobachtungsdaten und detailliertere Vorhersagen darüber,
was das LCDM-Modell tatsächlich impliziert. Forschenden am Max-Planck-Institut
für Astrophysik (MPA) ist es nun zusammen mit einem internationalen Team der
Harvard University und der Durham University sowie der York
University in Kanada und des Donostia International Physics Center
in Spanien gelungen, bei der theoretischen Beschreibung einen entscheidenden
Schritt voranzukommen. Aufbauend auf ihren früheren Erfolgen mit den Projekten
"Millennium" und "IllustrisTNG" entwickelten sie eine neue Reihe von
Simulationsmodellen mit dem Namen "MillenniumTNG", die die Physik der kosmischen
Strukturbildung mit wesentlich höherer statistischer Genauigkeit nachzeichnen,
als dies mit früheren Berechnungen möglich war.
Das Team nutzte den fortschrittlichen kosmologischen Rechen-Code GADGET-4,
der speziell für diesen Zweck am MPA entwickelt wurde, um die bisher größten,
hochaufgelösten Dunkle-Materie-Simulationen zu berechnen, die eine Region von
fast zehn Milliarden Lichtjahren abdecken. Darüber hinaus verwendeten sie den
hydrodynamischen Code AREPO, dessen Zellgröße sich dynamisch anpasst, um die
Prozesse der Galaxienbildung direkt in so großen Volumina zu verfolgen, dass sie
als repräsentativ für das gesamte Universum angesehen werden können.
Aus dem Vergleich der beiden Arten an Simulation kann genau bewertet werden,
wie sich baryonische Prozesse im Zusammenhang mit Supernova-Explosionen und
supermassereichen Schwarzen Löchern auf die Gesamtverteilung der Materie
auswirken. Dies wiederum erlaubt kommende Beobachtungen korrekt zu
interpretieren, wie z. B. die sogenannten schwachen Gravitationslinseneffekte.
Diese reagieren auf Materie unabhängig davon, ob sie dunkel oder baryonisch ist.
Außerdem bezog das Team massereiche Neutrinos in seine Simulationen ein – zum
ersten Mal in Simulationen, die groß genug sind, um kosmologische Beobachtungen
aussagekräftig nachzustellen.
In früheren kosmologischen Simulationen wurden Neutrinos meist der
Einfachheit halber weggelassen, da sie höchstens ein bis zwei Prozent der Masse
der Dunklen Materie ausmachen und ihre nahezu relativistischen Geschwindigkeiten
ein Zusammenklumpen verhindern. Nun aber werden künftige kosmologische
Durchmusterungen des Universums (wie mit dem kürzlich gestarteten
Euclid-Satelliten der europäischen Weltraumorganisation ESA) eine Genauigkeit
erreichen, die einen Nachweis der damit verbundenen prozentualen Effekte
ermöglicht. Dies eröffnet die verlockende Aussicht, die Neutrinomasse selbst zu
bestimmen, eine grundlegende, offene Frage in der Teilchenphysik – es steht viel
auf dem Spiel.
Für die bahnbrechenden MillenniumTNG-Simulationen nutzten die Forscherinnen
und Forscher zwei extrem leistungsstarke Supercomputer: den SuperMUC-NG am
Leibniz-Rechenzentrum in Garching und den Cosma8-Rechner, der von der Durham
University im Auftrag der britischen DiRAC-Hochleistungsrechenanlage
betrieben wird. Mehr als 120.000 Rechnerkerne arbeiteten am SuperMUC-NG fast
zwei Monate lang, wobei die vom deutschen Gauß-Zentrum für Hochleistungsrechnen
zur Verfügung gestellte Rechenzeit genutzt wurde, um das bisher umfassendste
hydrodynamische Simulationsmodell zu erstellen.
MillenniumTNG verfolgt die Entstehung von etwa einhundert Millionen Galaxien
in einer Region des Universums mit einem Durchmesser von etwa 2400 Millionen
Lichtjahren. Diese Berechnung ist etwa 15 Mal größer als die bisher beste in
dieser Kategorie, das TNG300-Modell des IllustrisTNG-Projekts. Mit Cosma8
berechnete das Team ein noch größeres Volumen des Universums, das mit mehr als
einer Billion Teilchen der Dunklen Materie und mehr als zehn Milliarden Teilchen
gefüllt ist, um den massereichen Neutrinos zu folgen. Obwohl diese Simulation
die baryonische Materie nicht direkt verfolgte, können die Galaxien in
MillenniumTNG mithilfe eines semi-analytischen Modells, das gegen die
baryonische Berechnung des Projekts kalibriert wird, genau vorhergesagt werden.
Dieses Verfahren führt zu einer detaillierten Verteilung der Galaxien und der
Materie in einem Volumen, das zum ersten Mal groß genug ist, um für das gesamte
Universum repräsentativ zu sein, so dass Vergleiche mit bevorstehenden
Beobachtungen auf eine solide statistische Grundlage gestellt werden können.
Die ersten Ergebnisse des MillenniumTNG-Projekts zeigen eine Fülle von neuen
theoretischen Vorhersagen, die die Bedeutung von Computersimulationen in der
modernen Kosmologie unterstreichen. Ein Aspekt betrifft beispielsweise die Form
von Galaxien. Nahe Galaxien haben die subtile Tendenz, ihre Formen ähnlich
auszurichten anstatt in willkürliche Richtungen zu zeigen – ein Effekt, der
"intrinsische Galaxienausrichtung" genannt wird. Dieser kaum erforschte Effekt
verzerrt die Ergebnisse, die sich aus dem schwachen Gravitationslinseneffekt
ergeben, der ja sein eigenes statistisches Ausrichtungssignal erzeugt.
Im Rahmen des MillenniumTNG-Projekts konnten zum ersten Mal intrinsische
Ausrichtungen mit einem sehr hohen Signal-Rausch-Verhältnis direkt bei den
simulierten Galaxien gemessen werden, und zwar bis zu Entfernungen von mehreren
hundert Millionen Lichtjahren. "Unsere Bestimmung der intrinsischen Ausrichtung
von Galaxien kann vielleicht dazu beitragen eine Diskrepanz aufzulösen, die
derzeit zwischen zwei Methoden herrscht, um die Amplitude zu messen, wie stark
Materie klumpt", sagt die Doktorandin Ana Maria Delgado aus dem MillenniumTNG-Team.
"Die Materie-Anhäufung wird dabei einmal über den schwachen
Gravitationslinseneffekt bestimmt und einmal aus dem kosmischen
Mikrowellenhintergrund abgeleitet." Mithilfe der MillenniumTNG-Ergebnisse werden
die Astronomen in der Lage sein, diesen wichtigen systematischen Effekt viel
besser zu korrigieren.
Ein weiteres aktuelles Ergebnis bezieht sich auf die jüngste Entdeckung einer
Population sehr massereicher Galaxien im jungen Universum mit dem
James-Webb-Weltraumteleskop (JWST). Kurze Zeit nach dem Urknall sind die Massen
dieser Galaxien unerwartet groß, was den theoretischen Erwartungen zu
widersprechen scheint. Dr. Rahul Kannan analysierte die Vorhersagen von
MillenniumTNG für diese frühe Epoche. Während die Simulationen bis zu einer
Rotverschiebung von z=10 (als das Universum weniger als 500 Millionen Jahre alt
war) mit den Beobachtungen übereinstimmen, bestätigte er, dass die neuen
JWST-Ergebnisse bei einer noch höheren Rotverschiebung im Widerspruch zu den
Vorhersagen der Simulationen stehen, falls sie Bestand haben. "Vielleicht ist
die Sternentstehung kurz nach dem Urknall viel effizienter als zu späteren
Zeiten, oder vielleicht sind damals massereiche Sterne in höheren Anteilen
entstanden, was diese Galaxien ungewöhnlich hell macht", erklärt Kannan.
Andere Arbeiten des Teams konzentrieren sich auf die Signale der
Haufenbildung bei Galaxien. So erstellte die MPA-Doktorandin Monica Barrera
extrem große und äußerst realistische Scheinkataloge von Galaxien auf dem
rückwärtigen "Lichtkegel" eines Referenzbeobachters. In diesem Fall sind
Galaxien, die weiter entfernt sind, automatisch auch jünger, was die Reisezeit
des Lichts widerspiegelt, das unsere Teleskope erreicht. Anhand dieser
virtuellen Beobachtungen untersuchte sie die sogenannte baryonische akustische
Oszillation (BAO) – ein kosmologisch wichtiges Standard-"Maßband" – in der
projizierten Zweipunkt-Korrelationsfunktion von Galaxien.
Ihre Ergebnisse zeigen, dass die Messung dieser BAOs ein ziemlich kniffliges
Unterfangen ist, das durch sogenannte kosmische Varianzeffekte erheblich
beeinflusst werden kann – selbst wenn in Beobachtungen extrem große Volumina
durchmustert und untersucht werden. Während man in Simulationen das modellierte
Universum aus verschiedenen Blickwinkeln beobachten kann, um den korrekten
statistischen Ensemble-Mittelwert zu ermitteln, ist dies für das reale Universum
nicht ohne weiteres möglich. "Die MillenniumTNG-Simulationen sind so groß und
enthalten so viele Galaxien – mehr als eine Milliarde in der größten Berechnung
– dass es wirklich schwierig war, sie zu untersuchen", sagt Barrera. "Skripte,
die für die Analyse kleinerer Simulationen gut funktionieren, brauchen für
MillenniumTNG ewig."
Die Serie der ersten Ergebnisse der MillenniumTNG-Simulationen macht
deutlich, dass die Berechnungen eine große Hilfe bei der Entwicklung besserer
Strategien für die Analyse künftiger kosmologischer Daten sein werden. Der
Leiter des Teams, Prof. Volker Springel vom MPA, führt an, dass "MillenniumTNG
die jüngsten Fortschritte bei der Simulation der Galaxienentstehung mit dem
Bereich der großräumigen kosmischen Struktur verbindet und eine verbesserte
theoretische Modellierung ermöglicht, wie sich Galaxien mit dem Rückgrat der
Dunklen Materie des Universums verbinden. Dies könnte sich als entscheidend für
Fortschritte bei wichtigen Fragen in der Kosmologie erweisen, etwa wie die Masse
von Neutrinos am besten mit Daten zur großräumigen Struktur eingeschränkt werden
kann." Die MillenniumTNG-Simulationen lieferten mehr als drei Petabyte an
Simulationsdaten und bilden damit einen reichen Fundus für die weitere
Forschung, die das Wissenschaftlerteam noch viele Jahre lang beschäftigen wird.
Über die ersten Ergebnisse berichtet das Team in insgesamt zehn Fachartikeln,
die in der
Zeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society erschienen
sind bzw. noch erscheinen werden.
 |
 |
 |
|
Hernández-Aguayo, C. et al.
(2023): The MillenniumTNG Project: High-precision predictions for
matter clustering and halo statistics, MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Pakmor, R. et al. (2023):
The MillenniumTNG Project: The hydrodynamical full physics simulation
and a first look at its galaxy clusters, MNRAS, Juli 2023
(arXiv.org-Preprint)
Barrera, M. et al. (2023): The MillenniumTNG
Project: Semi-analytic galaxy formation models on the past lightcone,
MNRAS, eingereicht (arXiv.org-Preprint)
Kannan, R. et al.
(2023): The MillenniumTNG Project: The galaxy population at z ≥ 8,
MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Hadzhiyska, B. et al. (2023):
The MillenniumTNG Project: Refining the one-halo model of red and blue
galaxies at different redshifts, MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Hadzhiyska, B. et al. (2023): The MillenniumTNG Project: An improved
two-halo model for the galaxy-halo connection of red and blue galaxies,
MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Bose, S. et al. (2023): The MillenniumTNG Project: The large-scale
clustering of galaxies, MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Contreras, S. et al. (2023): The MillenniumTNG Project: Inferring
cosmology from galaxy clustering with accelerated N-body scaling and
subhalo abundance matching, MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Delgado, A. M. et al. (2023): The MillenniumTNG Project: Intrinsic
alignments of galaxies and halos, MNRAS, Juli 2023 (arXiv.org-Preprint)
Ferlito, F. et al. (2023): The MillenniumTNG Project: The impact of
baryons and massive neutrinos on high-resolution weak gravitational
lensing convergence maps, MNRAS, eingereicht (arXiv.org-Preprint)
Max-Planck-Institut für
Astrophysik
|
|
|
|