Das erste Molekül war häufiger als gedacht
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
26. Juli 2019
Das Heliumhydrid-Ion war das erste Molekül, das sich im
Universum gebildet haben dürfte. Seine Entstehung markiert somit den Anfang der
Chemie. Nun ist es gelungen, Reaktionen von Elektronen mit Heliumhydrid-Ionen
bei tiefen Temperaturen zu verfolgen. Die Daten deuten auf eine deutlich größere
Häufigkeit dieses primordialen Moleküls hin, als bislang angenommen wurde.
Schemazeichnung der CSR-Ringstruktur mit
gespeichertem HeH+-Ionenstrahl (rot),
überlagertem Elektronenstrahl (blau),
Reaktionsprodukten (grün) und Teilchendetektor
(unten: detailliertes Reaktion).
Bild: MPIK [Großansicht] |
Nur drei Minuten nach dem Urknall stand die chemische Zusammensetzung des
Universums fest: 75% Wasserstoff, 25% Helium und Spuren von Lithium – erzeugt in
der primordialen Nukleosynthese. In diesem frühen Zustand war die gesamte
Materie aber noch vollständig ionisiert, bestehend aus freien nackten Atomkernen
und einem heißen Elektronengas – ein "nebliges" Plasma für die kosmische
Hintergrundstrahlung.
Ungefähr 400.000 Jahre später hatte sich das expandierende Universum soweit
abgekühlt, dass Elektronen und Kerne begannen, sich zu neutralen Atomen zu
verbinden. Es wurde durchsichtig, aber es gab noch keine Sterne, weshalb diese
Ära das "Dunkle Zeitalter" genannt wird. Mit weiter fallender Temperatur bildete
sich durch Kollision von Helium mit noch vorhandenen freien Protonen das erste
Molekül: das Heliumhydrid-Ion (HeH⁺) – der Anfang der Chemie.
HeH⁺ und andere frühe Moleküle spielten durch Infrarotemission eine
entscheidende Rolle zur Kühlung primordialer Gaswolken, ein notwendiger Schritt
zur Sternentstehung. Das Verständnis und die Modellierung dieser Prozesse
erfordern eine detaillierte Kenntnis der Häufigkeit und der Reaktionsraten der
relevanten Moleküle. Jedoch ist der Wissensstand hierüber bislang sehr begrenzt,
insbesondere im Bereich niedriger Temperaturen (< 100 K) des späten Dunklen
Zeitalters, als sich etwa 300 Millionen Jahre nach dem Urknall die ersten Sterne
bildeten.
Kürzlich wurde HeH⁺ anhand seiner Fern-Infrarot-Strahlung erstmals in unserer
Galaxis nachgewiesen (astronews.com berichtete). Die
Häufigkeit von HeH+ hängt kritisch von Reaktionen ab, die dieses abbauen. Bei
niedrigen Temperaturen dominiert der Abbau durch die sogenannte dissoziative
Rekombination (DR) mit freien Elektronen. Sobald Heliumhydrid durch einen
Elektroneneinfang neutralisiert ist, zerfällt es in Helium- und
Wasserstoff-Atome.
Bisher in Datentabellen für die Reaktionsraten verfügbare Werte beruhten auf
Laborexperimenten bei Raumtemperatur. Unter diesen Bedingungen befinden sich die
Moleküle in recht hohen Rotations-Anregungszuständen, die immer im Verdacht
standen, den Elektroneneinfangprozess zu beeinflussen. Um einen tieferen
Einblick in das Verhalten bei niedrigen Temperaturen zu gewinnen, haben Physiker
der Abteilung von Klaus Blaum am Heidelberger Max-Planck-Institut für Kernphysik
(MPIK) Stöße von HeH⁺ mit Elektronen am kryogenen Speicherring CSR des Instituts
untersucht. Diese weltweit einzigartige Maschine wurde für Laborastrophysik
unter Weltraumbedingungen – hinsichtlich Temperaturen und Dichten – entworfen
und aufgebaut.
Der CSR bietet eine Umgebung mit Temperaturen unter 10 Kelvin und ein
exzellentes Vakuum (beobachtet wurden weniger als 10⁻¹⁴ mbar). Die Rekombination
wurde an einem Elektronentarget untersucht, wo der gespeicherte Ionenstrahl über
eine Strecke von etwa einem Meter in einem gleichgerichteten Elektronenstrahl
eingebettet ist. Die relativen Geschwindigkeiten lassen sich bis zum Wert Null
einstellen, was einen Zugang zu sehr geringen Kollisionsenergien bietet. Die
Reaktionsprodukte aus der Elektron-Ion-Wechselwirkungszone werden stromab
nachgewiesen, was die Bestimmung absoluter Reaktionsraten erlaubt.
Bei einer Temperatur von 6 Kelvin im Inneren des CSR beobachteten die
Wissenschaftler, wie die gespeicherten HeH⁺-Ionen innerhalb von einigen zehn
Sekunden durch Strahlungskühlung in den Rotationsgrundzustand übergehen. Während
dieses Kühlvorgangs konnten sie die Besetzung der einzelnen Rotationszustände
verfolgen und daraus die zustandsabhängigen DR-Wahrscheinlichkeiten extrahieren.
"Wir bestimmen für die niedrigsten Rotationsniveaus von HeH⁺ eine
Rekombinationsrate, die bis zu einem Faktor 80 unterhalb der Werte in den bisher
verwendeten Datentabellen liegt", sagt Oldřich Novotný, leitender
Wissenschaftler des Experiments. "Der dramatische Rückgang liegt vor allem an
den in unseren Labormessungen verwendeten niedrigen Temperaturen. Daraus folgt
wiederum eine stark erhöhte Häufigkeit dieses primordialen Moleküls in der Ära
der ersten Sternentstehung und Galaxien."
Die neuen, beispiellos detaillierten Ergebnisse haben hohe Relevanz sowohl
für das Verständnis der Reaktion an sich als auch für die Modellierung des
frühen Universums. Für die Theorie molekularer Kollisionen ist das HeH⁺-System
weiterhin eine Herausforderung. Die neuen Resultate sind hier eine Messlatte für
die Berechnungs-Codes. Aus den experimentellen DR-Reaktionsraten – nunmehr für
verschiedene Elektronenenergien und Rotationszustände verfügbar – lassen sich
die Umgebungseigenschaften in Modellrechnungen für die Chemie des primordialen
Gases ableiten.
Diese, wie auch zukünftige Studien am CSR liefern vielfältig anwendbare
Daten. Angesichts des bevorstehenden Starts des James-Webb-Weltraumteleskops
kommen die neuen Möglichkeiten der Laborastrophysik gerade zur rechten Zeit,
wird doch seine Suche nach den ersten leuchtenden Objekten und Galaxien nach dem
Urknall erheblich von verlässlichen Vorhersagen zur Chemie des frühen Universums
profitieren.
Über ihre Ergebnisse berichtet das Team in einem Fachartikel, der in
der vergangenen Woche in der Zeitschrift Science erschienen ist.
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