Die wichtigste Sonnenfinsternis des Jahrhunderts
Redaktion
/ Pressemitteilung des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt astronews.com
29. Mai 2019
Heute jährt sich zum einhundertsten Mal ein bedeutendes
Datum der Wissenschaftsgeschichte: Am 29. Mai 1919 gelang während einer totalen
Sonnenfinsternis der Nachweis, dass die Sonne mit ihrer Masse tatsächlich den
umgebenden Raum und dadurch den Weg von Lichtstrahlen krümmt - wie von Einsteins
Allgemeiner Relativitätstheorie vorhergesagt.

Eine Aufnahme, die während der
Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 entstand.
Bild: Philosophical Transactions of the
Royal Society of London [Großansicht] |
"Genau so, wie es vier Jahre zuvor Albert Einstein in seiner Allgemeinen
Relativitätstheorie qualitativ und quantitativ vorhergesagt hatte", erklärt der
Astronom und Planetenforscher Dr. Manfred Gaida vom Raumfahrtmanagement des
Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR). "Dass die Masse der Sonne
tatsächlich und nachweisbar den Raum verbiegt und ihre Anziehung keine Kraft,
sondern eine Eigenschaft des Raumes selber ist, war eine völlig neue,
befremdliche Vorstellung von unserer Welt, die jenseits jeglicher
Alltagserfahrung lag", so der DLR-Wissenschaftler weiter.
Dass Lichtstrahlen beziehungsweise Lichtteilchen in der Nähe von Massen
abgelenkt werden, vermutete schon gut 200 Jahre zuvor der große Physiker Isaac
Newton, als er im Jahre 1704 im dritten Band seines Werkes "Opticks" dem Leser
die fiktive Frage stellte, ob Körper nicht durch ihre Anziehungskraft auf
Lichtteilchen wirken und sie demzufolge ablenken – und das umso stärker, je
geringer der gegenseitige Abstand ist. Nachweisen ließ sich allerdings diese
kühne Vermutung Newtons nicht, und es dauerte weitere hundert Jahre, bis 1801
der Münchner Astronom Johann Georg von Soldner erstmals einen Wert für diese
Newtonsche Lichtablenkung am Sonnenrand publizierte: nur 0,84 Bogensekunden ‒
entsprechend einer Strecke von nur zwei Kilometern auf der Mondoberfläche aus
Erddistanz – sollte sie betragen, ein Wert, der damals unterhalb der
Nachweisgrenze lag.
So brauchte es weitere rund 100 Jahre, bis Albert Einstein darüber
nachdachte, wie sich die geometrische Optik mit der Gravitationstheorie
verknüpfen lässt. Im Juni 1911 schrieb er in den "Annalen der Physik": "Es wäre
dringend zu wünschen, dass sich Astronomen der hier aufgerollten Frage annähmen,
auch wenn die im vorigen gegebenen Überlegungen ungenügend fundiert oder gar
abenteuerlich erscheinen sollten. Denn abgesehen von jeder Theorie muss man sich
fragen, ob mit den heutigen Mitteln ein Einfluss der Gravitationsfelder auf die
Ausbreitung des Lichtes sich konstatieren lässt." Und er selber berechnete auch
den Wert für die Ablenkung quantitativ zu 0,83 Bogensekunden, der nahezu mit dem
Wert Soldners übereinstimmte, dem jedoch anders als bei diesem das Relativitäts-
und Äquivalenzprinzip zugrunde lag und nicht bloß die Anziehungskraft einer
Masse.
Anfang des 20. Jahrhunderts war die astronomische Messtechnik immerhin soweit
fortgeschritten, dass es realistisch schien, einen winzigen Ablenkungseffekt von
knapp einer Bogensekunde auf Fotoplatten nachweisen zu können. Mit lichtstarken
Teleskopen war man auch in der Lage, helle Sterne am Tageshimmel zu sehen, doch
solche Beobachtungen wurden als Nachweismöglichkeit wegen der störenden
Nebeneffekte bald verworfen.
Die Beobachtung von totalen Sonnenfinsternissen schien hier
erfolgversprechender. Bei diesen Ereignissen dunkelt der Mond die Sonnenscheibe
minutenlang völlig ab, und Fixsterne in unmittelbarer Nähe der vom Mond
bedeckten Sonne leuchten auf. Einstein drängte den mit ihm befreundeten Berliner
Astronomen Erwin Finlay-Freundlich den späteren Initiator des Potsdamer
Einsteinturms, eine solche Überprüfung durchzuführen.
Doch Freundlichs Unternehmung in Russland kurz nach Beginn des Ersten
Weltkriegs missglückte, ebenso wie eine Expedition des Amerikaners William
Wallace Campbell. Der eine wurde auf der Krim als Feind inhaftiert, der andere
hatte südlich von Kiew schlechtes Wetter. Letztlich erwiesen sich die
misslungenen Expeditionen auch für Einstein als vorteilhaft. Denn in seinen
Überlegungen steckte noch ein Fehler, der zu einer nur halb so großen Ablenkung
führte, als sie in Wirklichkeit war. Hätte man 1914 den wahren Naturwert
gemessen, wäre Einstein selber verwundert gewesen und seine kühne Arbeit von
seinen Kollegen möglicherweise als Irrtum eingeschätzt worden.
Erst im Zuge seiner Veröffentlichung der Allgemeinen Relativitätstheorie im
Jahre 1915 quantifizierte er die Ablenkung exakt auf 1,75 Bogensekunden am
Sonnenrand. Kurz nachdem Albert Einstein im November 1915 seine Allgemeine
Relativitätstheorie dann in den Annalen der Physik in deutscher Sprache
veröffentlicht hatte, widmete sich der niederländische Astronom Willem de Sitter
in einer dreiteiligen englischsprachigen Arbeit den astronomischen
Konsequenzen der Einsteinschen Gravitationstheorie.
Diese Arbeit bestärkte die englischen Astronomen Arthur Eddington und Frank
Dyson in ihrem Interesse an Einsteins Theorie, die es anhand von experimentellen
Messungen zu bestätigen oder zu verwerfen galt. Darunter auch die obskure
Lichtablenkung, bei der die Sterne, bezogen auf die Position des Sonnenrandes,
tangential um 1,75 Bogensekunden weiter entfernt erscheinen sollten im Vergleich
zu ihrer nächtlichen Position in einem Himmelsfeld ohne Sonne.
Nachdem ein zweiter Versuch Campbells im Juni 1918 in den USA fehlgeschlagen
war, kam die Stunde der englischen Astronomen. Frank Dyson war hierbei die
treibende Kraft, Eddington als führenden Theoretiker für diese besondere Aufgabe
vor den Kriegswirren abzuschirmen und zwei Expeditionen zu einer fast sieben
Minuten dauernden totalen Sonnenfinsternis am 29. Mai 1919 vorzubereiten. Diese
sollte sich idealerweise nahe eines Haufens hellerer Sterne (Hyaden) ereignen.
Die beiden Expeditionen sollten zeigen, wer Recht hatte: Einstein oder Newton
oder keiner von beiden. Immerhin ließ sich mit Einsteins Theorie bereits eine
bis dahin unverstandene kleine Winkeldifferenz erklären, die man bei der
Periheldrehung des Planten Merkur, einer fortschreitenden Drehung seiner
Bahnellipse, festgestellt hatte. Am 8. März stachen beide Expeditionsteams von
Liverpool aus mit dem Ziel Madeira in See, wo sich ihre Wege trennten. Während
Andrew Crommelin und seine Leute weiter nach Sobral in Brasilien reisten,
steuerte Eddington mit seinem Team die portugiesische Insel Príncipe im
westafrikanischen Golf von Guinea als Ziel an, die sie am 23. April erreichten.
Nachdem die Beobachtungsinstrumente ausgepackt, eingerichtet, justiert und
getestet waren, konnte die erwartete Sonnenfinsternis am 29. Mai beginnen. Die
wissenschaftliche Ausbeute beider Expeditionen war allerdings recht mager: Den
Beobachtern in Sobral gelang es während der Finsternis, acht brauchbare
Fotoplatten zu belichten, während Eddington wetterbedingt nur zwei weiter
verwendbare Platten (von insgesamt 16) nach England zurückbringen und mit
"sonnenfreien“ Aufnahmen desselben Himmelsfeldes vergleichen konnte. Die
Auswertung beider Expeditionen ergab für die Beobachtungen in Sobral eine
Ablenkung von 1,98 ± 0,16 Bogensekunden und für die auf Príncipe 1,61 ± 0,30
Bogensekunden. Damit war Einstein bestätigt.
Die Ergebnisse wurden ‒ gegen einigen Widerstand der amerikanischen
Astronomen ‒ am 6. November desselben Jahres von Dyson, Eddington und Davidson
in den "Philosophical Transactions of the Royal Society of London"
veröffentlicht. Das Resultat schlug ein wie ein Blitz und Albert Einstein wurde
über Nacht weltberühmt.
Nur wenige werden allerdings Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie und
deren Bedeutung für unser Weltbild damals richtig verstanden haben ‒ eine
verblüffend exakte, in strenger mathematischer Sprache gefasste Theorie, deren
Vorhersagen auch heutzutage anhand zahlreicher ultrapräziser Messungen und
aufsehenerregender Beobachtungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit Schwarzen
Löchern, immer wieder aufs Neue bestätigt werden.
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