Taumelnde Satelliten im Visier
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung der Fraunhofer-Gesellschaft astronews.com
14. August 2017
Unkontrollierte Objekte im Erdorbit bergen massive Risiken
für die Raumfahrt. Seit April 2012 fliegt auch der ESA-Umweltsatellit ENVISAT
manövrierunfähig um die Erde. Wissenschaftler haben nun ein neues Verfahren zur
Gewinnung möglichst umfassender Informationen über den Zustand des Satelliten
entwickelt, um ihn möglicherweise gezielt zum Absturz bringen zu können.
Eine korrekt skalierte
Radarbildrekonstruktion des Satelliten ENVISAT.
Bild: Fraunhofer FHR [Großansicht] |
Der ehemalige Umweltsatellit ENVISAT ist eines der größten Raumfahrzeuge, die
jemals von der ESA in die Erdumlaufbahn gebracht wurden. Bereits 2002 wurde der
2,3 Milliarden Euro teure und rund acht Tonnen schwere Umweltsatellit gestartet
und verrichtete bis 2012 zuverlässig seinen Dienst – die Überwachung des Klimas,
der Ozeane und der Landflächen des Planeten Erde. Dann ging der Kontakt
verloren. Der Erdbeobachtungssatellit fliegt in einer erdnahen Umlaufbahn in
etwa 800 km Höhe – eine Region des Erdorbits mit einer hohen Populationsdichte
an Weltraumobjekten.
"Weltraummüll ist ein großes Problem in der erdnahen Raumfahrt. Der nun
unkontrollierte Flug von ENVISAT bedeutet eine alltägliche Gefahr von
Kollisionen mit aktiven Satelliten und Raumfahrzeugen", betont Dr.-Ing. Delphine
Cerutti-Maori, Geschäftsfeldsprecherin Weltraum am Fraunhofer-Institut für
Hochfrequenzphysik und Radartechnik FHR. "Darüber hinaus entsteht weiteres
Risikopotenzial, denn Zusammenstöße können zur Entstehung neuer Trümmerteile
beitragen, die wiederum mit anderen Objekten kollidieren könnten – ein
gefährlicher Schneeballeffekt."
Um der Situation zu begegnen, sucht die ESA zurzeit nach Lösungsansätzen, um
ENVISAT auf eine tiefere Umlaufbahn zu bringen und schließlich in der
Erdatmosphäre kontrolliert und sicher verglühen zu lassen. Solche sogenannten
"De-Orbiting-Missionen" können jedoch nur gelingen, wenn zuvor die
Eigendrehbewegung des Satelliten korrekt bestimmt wird. Erst dann kann
festgelegt werden, mit welcher Methode der Satellit eingefangen werden soll.
Das Forscherteam des Fraunhofer FHR will zukünftige De-Orbiting-Missionen
effizient unterstützen. "Unser Weltraumbeobachtungsradar TIRA kombiniert ein Ku-Band-Abbildungsradar
und ein L-Band-Zielverfolgungsradar. Das bietet uns mittels ISAR-Bildgebung die
einzigartige Möglichkeit, Weltraumobjekte hochaufgelöst abzubilden", erklärt
Dr.-Ing. Ludger Leushacke, Abteilungsleiter Radar zur Weltraumbeobachtung am
Fraunhofer FHR. "Im Gegensatz zu optischen Systemen bietet unser Radar-System
entscheidende Vorteile: Vollständige Unabhängigkeit vom örtlichen Wetter,
Einsatzfähigkeit bei Tag und bei Nacht, sowie eine Auflösung, die völlig
unabhängig von der Entfernung des Objekts ist. Zudem können wir sowohl die
Drehgeschwindigkeit von schnell rotierenden Objekten wie ENVISAT als auch von
langsam rotierenden Objekten bestimmen." Die mit TIRA aufgenommenen
Radar-Rohdaten von ENVISAT werden mit am Fraunhofer FHR entwickelten speziellen
Methoden prozessiert und im Anschluss ausgewertet.
Hochaufgelöste Radarbilder werden erzeugt, indem die relative Drehung des
beobachteten Objekts zur stationären Radaranlage genutzt wird. Dabei wird das
Objekt von verschiedenen Betrachtungswinkeln beleuchtet. Allerdings hängt die
Querskalierung im Radarbild von der tatsächlichen Drehgeschwindigkeit ab, die
aber selbst ja erst aus den Daten gewonnen werden soll. "Zur Bewältigung dieser
Problematik bei der Bildgewinnung hat unser Expertenteam eine geeignete Methodik
entwickelt, die Drahtgittermodelle der Objekte verwendet, um die Querskalierung
richtig zu schätzen", erläutert Cerutti-Maori. "Hierzu wird an verschiedene
Bilder einer Passage manuell ein Drahtgittermodell des Objektes projiziert. Aus
der zeitlichen Entwicklung der Projektionen über eine Passage lässt sich dann
der Rotationsvektor des Objekts zuverlässig abschätzen."
Für die Analyse der langzeitlichen Entwicklung der Eigenbewegung von ENVISAT
wurden Beobachtungen aus dem Zeitraum von 2011, kurz vor Abbruch des Kontakts,
bis 2016 herangezogen. Im regulären Dienst rotierte ENVISAT relativ langsam mit
ca. 0,06 Grad pro Sekunde, was einer Umdrehung pro Erdumlauf entsprach. Kurz
nach dem Abriss der Verbindung am 8. April 2012 konnte ein Anstieg der
Eigendrehbewegung auf fast drei Grad pro Sekunde festgestellt werden, etwa 45
Umdrehungen pro Umlauf. Dieser Anstieg der Eigendrehgeschwindigkeit deutet nicht
einen Zusammenstoß mit anderen Objekten hin, da die Zunahme graduell erfolgte
und nicht plötzlich, lautet der Rückschluss der Forscherinnen und Forscher am
Fraunhofer FHR. Seit Mitte 2013 ist eine Verlangsamung der Drehgeschwindigkeit
zu beobachten: Sie lag Ende 2016 bei ca. 1,6 Grad pro Sekunde.
"Unsere Untersuchungen können maßgeblich dazu beitragen, in Zukunft eine
kontrollierte Entfernung des havarierten ENVISAT zu unterstützen, wenn die ESA
sich dazu entscheidet", so Leushacke. "Die am Fraunhofer FHR entwickelten
Methoden zur bildgestützten Aufklärung sind aktuell weltweit einzigartig und
eignen sich bestens, um bei Weltraumobjekten Ausrichtung und Eigendrehbewegung
zu analysieren und deren langzeitliche Entwicklung belastbar zu prognostizieren.
Darüber hinaus können sie eingesetzt werden, um auch potenzielle äußere
Beschädigungen der Satelliten effizient zu untersuchen".
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