Keine Beobachtung ist auch ein Ergebnis
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Paul Scherrer Instituts astronews.com
10. März 2016
Gibt es eine neue Physik, die alle durch das
Standardmodell beschriebenen Phänomene enthält und zudem auch bislang rätselhafte
Beobachtungen erklären kann? Um die diskutierten Theorien zu überprüfen, führen
Teilchenphysiker aufwendige Versuche durch, wie das MEG-Experiment. Dass sie dabei nichts
entdecken, ist für sie ein wichtiges Resultat.

Nichts entdeckt und trotzdem ein Ergebnis:
Angela Papa vom PSI am MEG-Experiment des
Instituts.
Foto: Paul Scherrer Institut /
Markus Fischer [Großansicht] |
Myonen sind exotische und sehr kurzlebige Elementarteilchen, die praktisch
direkt nach ihrer Entstehung in andere, stabilere Teilchen zerfallen. Sie können
dabei jedoch unterschiedliche Zerfallspfade einschlagen: Entweder resultiert aus
dem Zerfall also diese oder aber jene Gruppe von Teilchen.
Ein ganz besonderer dieser Zerfallspfade ist zwar noch nie beobachtet worden,
ist aber für Physiker von großem Interesse: Der Zerfall eines Myons in ein
Elektron und ein Lichtteilchen. Dieser wird auch kurz MEG-Zerfall genannt, für
Myon-Elektron-Gamma, wobei Gamma das Lichtteilchen bezeichnet.
Klar ist bislang, dass ein MEG-Zerfall extrem selten ist. Wie selten genau, das
wollen Forschende am Paul Scherrer Institut mit dem MEG-Experiment beziffern.
Sie erhoffen sich dabei die Entdeckung einer sogenannten neuen Physik - und
damit eine Tür zu bisher ungeklärten Phänomenen im Universum. Aufgrund der
neuesten Messungen der Forschenden, die wieder keinen einzigen MEG-Zerfall
zutage brachten, lässt sich nun sagen: Die Wahrscheinlichkeit für diesen Zerfall
ist kleiner als 1 zu 2,4 Billionen.
Diese experimentell ermittelte Zahl ist ein relevanter Parameter für
theoretische Physiker, die mathematische Modelle entwickeln, mit denen sich
nichts weniger als unser gesamtes Universum beschreiben lässt. Manche dieser
Theorien - darunter das derzeit gebräuchliche Standardmodell der Teilchenphysik
- besagen, dass der MEG-Zerfall so gut wie nie vorkommt und damit unmöglich zu
beobachten ist.
Das Standardmodell ist ein umfassendes Konzept, das sehr vieles von dem erklärt,
was die Menschheit bisher beobachten konnte - aber leider nicht wirklich
alles. Unter anderem verschweigt das Standardmodell die Existenz der sogenannten
Dunklen Materie und der Dunklen Energie: Jener mysteriösen Stoffe, die zusammen
rund 95 Prozent des Universums bilden sollen. Darum suchen Wissenschaftler
weltweit nach einer neuen Physik.
Diese würde dargestellt durch eine Theorie, die die Vorhersagen des
Standardmodells beinhaltet, jedoch auch darüber hinausgeht - und damit unser
Universum umfassender beschreibt. Eine vielversprechende Gruppe von Theorien ist
Susy, kurz für Supersymmetrie. Viele der theoretischen Modelle aus der Susy-Familie
sagen eine Wahrscheinlichkeit für den MEG-Zerfall voraus, die so hoch liegt,
dass sich dieses Ereignis am PSI früher oder später beobachten lassen sollte.
Mit jeder noch genaueren Messung, bei der der Zerfall nicht gefunden wird, lässt
sich daher eine Reihe alternativer Theorien verwerfen.
Die neu bezifferte Unwahrscheinlichkeit des MEG-Zerfalls erhielten die
Forschenden durch die Auswertung von Daten, die sie am PSI zwischen 2009 und
2013 beinahe kontinuierlich sammelten. Nicht nur die lange Messzeit war
erforderlich, um das nun vorliegende Ergebnis zu erhalten - auch die
Versuchsdurchführung am PSI war entscheidend: Hier befindet sich die weltweit
leistungsstärkste Myonenanlage, an der sich pro Sekunde rund 30 Millionen
Myonenzerfälle beobachten lassen.
Nur dank dieses hohen Durchsatzes konnten die Wissenschaftler in den fünf Jahren
ganze 2,4 Billionen Myonen und ihre Zerfälle vermessen. Der entscheidende
MEG-Zerfall war nicht dabei - und so kommen sie auf die neue Obergrenze der
Wahrscheinlichkeit für diesen Zerfall.
Obgleich also der MEG-Zerfall nicht gefunden wurde, sehen die beteiligten
Forscher ihr Experiment als Erfolg an. "Dadurch, dass wir den Zerfall bisher
nicht gesehen haben, können wir die gedankliche Linie verschieben, hinter der
nach einer neuen Physik gesucht werden muss", erklärt Angela Papa,
Teilchenphysikerin am PSI und an der Untersuchung beteiligt. "Und sollten wir
eines Tages doch einen MEG-Zerfall beobachten, wäre das ein starker Hinweis auf
neue Physik."
Das bedeutet bislang nicht, dass ein gesamter theoretischer Ansatz wie
beispielsweise die Supersymmetrie verworfen werden muss, sondern lediglich
individuelle Modelle innerhalb solcher Theorie-Familien. Ihr MEG-Experiment und
damit die Suche nach dem Zerfall werden das PSI-Team auch in Zukunft verfeinern
und fortsetzen. Ob der Zerfall eines Tages nun beobachtet wird oder nicht - die
Messergebnisse dürften in jedem Fall zum Wissen um die fundamentalen Strukturen
der Materie beitragen.
Ihre aktuellen Ergebnisse präsentieren die Wissenschaftler auf der
internationalen Konferenz Les Rencontres de Physique de la Vallée d'Aoste,
die gerade im italienischen La Thuile stattfindet.
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