Daten über eine Milliarde Sterne
von Stefan Deiters astronews.com
19. Dezember 2013
Der europäische Astrometriesatellit Gaia ist heute
Morgen erfolgreich gestartet. Gaia soll rund eine Milliarde Sterne
unserer Milchstraße mit bislang unerreichter Genauigkeit vermessen und den
Astronomen so ein besseres Verständnis über das dreidimensionale
Erscheinungsbild unserer Heimatgalaxie vermitteln. Dazu wird Gaia ab
Frühjahr kommenden Jahres täglich im Schnitt 40 Millionen Sterne erfassen.

Gaia soll über
fünf Jahre rund eine Milliarde Sterne erfassen.
Bild: ESA / ATG medialab / ESO / S. Brunier
(Hintergrund) |
Der europäische Astrometrie-Satellit Gaia ist heute um 10.12 Uhr MEZ
an Bord einer Sojus-Trägerrakete vom europäischen Raumfahrtbahnhof in
Kourou aus gestartet. Nach der Abtrennung der ersten drei Stufen wurde etwa zehn
Minuten später die Fregat-Oberstufe gezündet, um Gaia zunächst
auf einen Parkorbit in 175 Kilometern Höhe zu bringen. Die zweite Zündung der
Fregat elf Minuten später beförderte Gaia dann auf eine
Übergangsbahn, auf der der Satellit 42 Minuten nach dem Start von der
Raketenoberstufe abgetrennt wurde.
Anschließend stellte das Team im Raumflugkontrollzentrum ESOC der ESA in
Darmstadt die Verbindung für die Telemetrie- und Lageregelungsbefehle her, so
dass das Raumfahrzeug seine Systeme hochfahren konnte. Der 10,5 Meter
durchmessende Sonnenschild, auf dem auch die Solarzellen montiert sind, wurde in
einem zehnminütigen automatischen Vorgang entfaltet, der etwa 88 Minuten nach
dem Start abgeschlossen war.
Inzwischen befindet sich die Sonde auf dem Weg zum sogenannten Lagrange-Punkt
2, der 1,5 Millionen Kilometer von der Erde entfernt auf der sonnenabgewandten
Seite unseres Planeten liegt. Diesen Punkt wird Gaia in etwa drei
Wochen erreicht haben. Morgen und in rund 20 Tagen sind dazu noch zwei
entscheidende Triebwerkszündungen vorgesehen. Am Lagrange-Punkt 2 angekommen,
beginnt eine etwa viermonatige Phase, in der der Satellit betriebsbereit gemacht
und auf seine wissenschaftliche Mission zur Erfassung von rund einer Milliarde
Sternen der Milchstraße vorbereitet wird.
Gaia soll dabei nicht nur die genaue Position der Sterne mit bislang
unerreichter Genauigkeit messen, sondern auch Informationen über ihre
Helligkeit, chemische Zusammensetzung und Bewegung durchs All liefern. Aus den
Daten wollen Astronomen eine dreidimensionale Karte unserer Milchstraße
erstellen. Die darin enthaltenen Informationen werden für Forscher aus ganz
unterschiedlichen Bereichen der Astronomie wichtig sein.
Fünf Jahre lang soll Gaia dazu jeden Tag im Schnitt 40 Millionen
Sterne beobachten und so über den gesamten Missionszeitraum rund eine Milliarde
Sterne bis zu 70 Mal erfasst haben. Von 99 Prozent dieser Sterne gab es bislang
keine genauen Entfernungsmessungen. Die uns nächstgelegenen Sterne wird Gaia
dabei mit einer Genauigkeit von 0,001 Prozent vermessen können, Sterne in der
Nähe des galaktischen Zentrums noch immer mit einer Präzision von immerhin 20
Prozent. Gaia soll dabei noch Sterne erfassen können, die etwa eine
Millionen Mal lichtschwächer sind als Sonnen, die sich gerade noch mit bloßem
Auge erkennen lassen.
Um dies alles zu bewerkstelligen, befindet sich an Bord von Gaia
ein extrem leistungsfähiges Abbildungssystem, bei dem es sich im Prinzip um
eine Digitalkamera mit fast einer Milliarde Pixeln handelt. Zum Vergleich: Die
Kamera eines modernen Smartphones verfügt heute über einen Chip mit vielleicht
zehn Millionen Pixeln. Die erwarteten Datenmengen sind daher enorm: Insgesamt
dürften während der Mission ein Petabyte an Daten anfallen, also eine Million
Gigabyte. Dies entspricht etwa 200.000 DVDs mit Daten.
Diese enormen Datenmengen stellen auch ganz neue Anforderungen an die
Erfassung, Aufbereitung und Archivierung auf der Erde. Und daran sind auch
Astronomen aus Deutschland beteiligt: So entstand beispielsweise am
Astronomischen Rechen-Institut (ARI) in Heidelberg, das Teil des Zentrums für
Astronomie der Heidelberger Universität ist, eine Software, die die korrekte
Funktion aller Systeme an Bord und die Qualität der wissenschaftlichen Rohdaten
überwacht.
Sie übernimmt den sogenannten "First Look" auf die übertragenen Daten und
umfasst rund 350.000 Programmzeilen in der Computersprache Java. Sie wurde
größtenteils von den Mitarbeitern der Gaia-Gruppe am ARI geschrieben.
Jeden Tag wird die Software einen umfassenden Bericht über den Zustand der
Systeme an Bord und die technische Integrität und wissenschaftliche Qualität der
Daten erstellen.
Allein schon diese Informationen werden aber so umfangreich sein, dass kein
Mensch sie täglich lesen und begutachten kann. "Statt dessen sucht unsere
Software in den Zahlen, Tabellen und Diagrammen des Berichts nach Abweichungen
und markiert diese", erklärt Dr. Michael Biermann, der Leiter des Heidelberger
"First-Look"-Teams. "So kann der jeweils diensthabende
First-Look-Wissenschaftler sehr rasch und gezielt nach Zusammenhängen mit
anderen Daten und nach möglichen Ursachen von Problemen forschen und Abhilfen
vorschlagen." So hofft das Team sicherstellen zu können, dass keine wertvollen
Daten verlorengehen oder sich die Messgenauigkeit unbemerkt verschlechtert.
Der wahre Wert von Gaia liegt aber in den Daten, die der Satellit
über die Sterne der Milchstraße liefert: "Von den Daten, die Gaia zur
Erde funken wird, erhoffen Astronomen unter anderem Erkenntnisse über die
Entstehung und Entwicklung unserer Heimatgalaxie, der Milchstraße", so
ARI-Direktorin Prof. Dr. Eva Grebel.
"Gaia ist eine Entdeckungsmaschine, ein galaktischer Zensus: Wir
bekommen dank der Präzision des Teleskops eine sehr genaue räumliche Vorstellung
von dem, was uns umgibt. Dabei sitzen wir mittendrin in der Milchstraße und
können deshalb nur mit besonderen Anstrengungen überhaupt einen kompletten
Überblick über unsere Heimatgalaxie gewinnen", unterstreicht Dr. Dietmar
Lilienthal, Gaia-Projektleiter im Raumfahrtmanagement des Deutschen
Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR).
Trotz der vielen Aufgaben, die noch auf alle beteiligten Wissenschaftler
warten, dürfte am heutigen Tag erst einmal die Erleichterung darüber
vorherrschen, dass "ihr" Satellit nun endlich im All ist. Auf diesen Moment
haben alle nämlich lange warten müssen: Die Vorbereitungen für Gaia
begannen bereits vor 19 Jahren, allein die Bauzeit des Satelliten betrug sieben
Jahre.
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