Die Materie direkt nach dem Urknall
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
11. Oktober 2013
Wissenschaftler haben am Large Hadron Collider des
Genfer CERN erstmals energiereiche Kollisionen von Wasserstoff- und Bleikernen
untersucht und die Produktion einer bestimmten Sorte kurzlebiger Teilchen
detailliert gemessen. Von den Resultaten versprechen sie sich ein besseres
Verständnis der extrem heißen Materie, wie sie unmittelbar nach dem Urknall
existierte.

Eine
Proton-Blei-Kollision, beobachtet mit dem LHCb-Detektor
während der Messphase.
Bild: LHCb-Kollaboration |
Die Bausteine von Atomkernen - Protonen und Neutronen - bestehen aus Quarks.
Von diesen fundamentalen Teilchen kennen die Physiker sechs verschiedene
Varianten und dazu jeweils die entsprechenden Antiteilchen. Quarks treten nicht
isoliert, sondern nur in zusammengesetzten Teilchen auf, in denen sie von
Gluonen, den Austauschteilchen der starken Kernkraft, zusammengehalten werden.
Proton und Neutron, zum Beispiel, bestehen aus jeweils drei Quarks.
Unmittelbar nach dem Urknall waren Quarks und Gluonen noch nicht in
Elementarteilchen gebunden. Stattdessen bildete die extrem heiße Materie einen
unstrukturierten "Brei", ein sogenanntes Quark-Gluon-Plasma. Auch in sehr
energiereichen "Frontalzusammenstößen" von Kernen schwerer Elemente wie
beispielsweise Blei kann für extrem kurze Zeitspannen ein Quark-Gluon-Plasma von
Atomkerngröße entstehen, bevor tausende, meist kurzlebige Teilchen von der
"Unfallstelle" davon fliegen.
Nachweisen lässt sich ein Quark-Gluon-Plasma nur indirekt, etwa dadurch, dass
die Bildung bestimmter Teilchen in der Reaktion relativ unterdrückt ist.
Allerdings kann auch normale "kalte" Kernmaterie solche Effekte bewirken. Es ist
also erforderlich, beide Effekte zu trennen, wenn man das Quark-Gluon-Plasma
verstehen und damit mehr über den Urknall lernen will.
Bei Kollisionen von Protonen mit schweren Kernen oder von Protonen
untereinander kann kein Quark-Gluon-Plasma entstehen, während die Effekte der
kalten Kernmaterie auftreten. Deshalb hat die an der LHCb-Kollaboration
beteiligte Gruppe von Michael Schmelling vom Max-Planck-Institut für Kernphysik
sich maßgeblich für ein Experiment engagiert, das gleichzeitig ein neues
Einsatzgebiet für den LHCb-Detektor darstellt: Kollisionen von Blei-Kernen mit
Protonen, also Wasserstoffkernen.
Ein erstes Resultat ist die Messung der Produktion einer bestimmten Sorte
schwerer Teilchen, sogenannter J/ψ Mesonen. In Blei-Blei-Stößen dagegen
entstehen so extrem viele Teilchen, dass LHCb aufgrund seiner Konstruktion quasi
geblendet und möglicherweise sogar beschädigt würde.
Der LHCb-Detektor, rund 20 Meter lang und zehn Meter hoch, ist der kleinste
der vier großen Teilchendetektoren am Large Hadron Collider (LHC) des
CERN in Genf. Seine Spezialität ist es, nahe am Kollisionspunkt und im spitzen
Winkel zur Flugrichtung der Projektile die im Stoß erzeugten Teilchen zu
registrieren. Mit seinen verschiedenen Komponenten kann er sowohl die Teilchen
identifizieren als auch ihren Ursprungspunkt genau lokalisieren.
Für das Experiment wurden Anfang des Jahres etwa drei Wochen lang im LHC
Protonen und Bleikerne mit entgegengesetzter Flugrichtung auf eine Energie von
mehreren TeV pro Nukleon (ein Tera-Elektronenvolt ist die Energie, die ein
Proton erhält, wenn es eine Spannung von einer Billion Volt durchfallen hat)
beschleunigt und zur Kollision gebracht. Das ist ungefähr so, als würden ein
Tischtennis- und ein Basketball frontal aufeinander geschossen.
Um diese unsymmetrischen Kollisionen sozusagen von der Tischtennisball- und
der Basketballseite aus untersuchen zu können, wurde nach zwei Wochen die
Flugrichtung der beiden Strahlen umgekehrt. In den Stößen werden J/ψ-Mesonen
sowohl direkt, als auch über den Zerfall noch schwererer Teilchen gebildet, die
erst einige Millimeter weit fliegen ehe sie zerfallen. LHCb kann diese beiden
Beiträge unterscheiden.
Die J/ψ-Mesonen selbst verraten sich anhand eines charakteristischen
Zerfallsmusters. Wie erwartet unterscheidet sich ihre Produktion auf den beiden
Reaktionswegen und hängt auch von der Beobachtungsrichtung ab. Die Messergebisse
sind konsistent mit den leider noch recht unsicheren theoretischen Vorhersagen
und in guter Übereinstimmung mit den parallel durchgeführten Messungen mit dem
ALICE-Detektor am LHC.
ALICE kann allerdings bloß die Summe von direkten und indirekten Beiträgen
messen. "Zusammen mit den früheren Messungen aus Proton-Proton-Stößen schaffen
die Proton-Blei-Resultate damit die Voraussetzung, die Eigenschaften des Quark-Gluon-Plasmas
am LHC mit hoher Genauigkeit zu bestimmen", so Schmelling zur Bedeutung der
Studie, die im Journal of High Energy Physics erscheinen soll.
|