Kalte Gaswolken und ein heißes Molekül
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Institut für Kernphysik astronews.com
23. Januar 2012
In kalten interstellaren Gaswolken kommen Blausäure und die wesentlich
energiereichere Isoblausäure überraschenderweise in nahezu gleichen
Mengen vor. Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Kernphysik ist
es nun gelungen, mit Experimenten im Heidelberger Ionenspeicherring die
Ursache dafür zu klären: Bei der interstellaren Synthese entsteht
zunächst eine heiße Mischform, aus der beide Isomere gleich häufig
hervorgehen.
Der von der Heidelberger Forschergruppe zusammen
mit Kollegen vom Weizmann Institute of Science in
Rehovot neu entwickelte Detektor, der sowohl Orte
als auch Teilchenmassen für die Fragmente
molekularer Aufbruchreaktionen bestimmt, kurz vor
seinem Einbau in das Vakuumsystem des
Heidelberger Ionenspeicherrings. Die Pfeile
zeigen schematisch die Flugbahnen der
auftreffenden Fragmente.
Bild: Max-Planck-Institut für Kernphysik |
Wenn sich aus kalten Gaswolken Sterne bilden, finden sich in den Wolken
bereits viele Moleküle, die aus den wichtigen Grundelementen
(Wasserstoff, Kohlenstoff, Stickstoff, Sauerstoff bis hin zu Schwefel)
aufgebaut sind. Mit empfindlichen neuen Observatorien lassen sich die
"Fingerabdrücke" vieler dieser Moleküle im Licht und in der
Radiostrahlung dieser Gaswolken identifizieren.
Rätselhafterweise zeigt sich dabei, dass die Atome in den interstellaren
Molekülen nicht immer in der energetisch günstigsten Anordnung
vorliegen. Manche der beobachteten Verbindungen werden in verwandten
Formen (sogenannte Isomeren) gefunden, die durch Platzwechsel einzelner
Atome innerhalb des Moleküls entstehen können. Für solche Platzwechsel
muss jedoch eine erhebliche Energie aufgewendet werden, die Temperaturen
von vielen tausend Grad erfordert. Eines dieser Moleküle ist Blausäure
(HCN - das Wasserstoffatom ist an das Kohlenstoffatom gebunden), deren
wesentlich energiereicheres Isomer Isoblausäure (HNC - das
Wasserstoffatom ist an das Stickstoffatom gebunden) etwa genauso häufig
gefunden wird wie Blausäure, die bei den tiefen Temperaturen im freien
Raum eigentlich weit überwiegen sollte.
Schon lange wurde vermutet, dass die Bildung dieser oft sehr
energetischen Isomere auf die allgemeine Art der Molekülbildung in
interstellaren Wolken zurückzuführen sei. Sie erfolgt letztlich durch
die ionisierende Strahlung, die das Weltall durchdringt. Hierbei bildet
sich auf einem verschlungenen Weg zuerst ein symmetrischer Vorläufer,
das Ion HCNH+. Trifft ein HCNH+-Ion mit einem Elektron zusammen, wird es
neutralisiert und zerfällt in Bruchstücke, wobei Energie frei wird. Auf
diesem Weg ist die Bildung beider Isomere möglich.
Forscher am Max-Planck-Institut für Kernphysik haben nun diese
elementare Aufbruchreaktion im Labor genau vermessen – unter
Bedingungen, die denen in interstellaren Wolken sehr nahe kommen. Im
Heidelberger Ionenspeicherring brachten sie Elektronen und DCND+-Ionen
(Varianten des HCNH+ mit schwerem Wasserstoff; das D steht für
Deuterium) einzeln zum Stoß, und zwar bei extrem geringen Stoßenergien,
die der Temperatur von etwa minus 260 Grad Celsius in den interstellaren
Wolken entsprechen.
Mit einem kürzlich in der Forschergruppe neu entwickelten großflächigen
Detektor bestimmten sie die Orte und die Teilchenmassen der Fragmente D
und DCN bzw. DNC. Nur so kann sichergestellt werden, dass im Experiment
immer nur genau der Aufbruch in zwei Teilchen registriert wird. Eine
Unterscheidung zwischen den beiden Isomeren des Produktmoleküls ist bei
diesem Teilchenphysik-Experiment zwar nicht möglich; dafür aber kann
damit die Bewegungsenergie der Bruchstücke genau bestimmt werden.
Hierbei beobachteten die Forscher, dass die freigesetzte
Bewegungsenergie viel geringer war als erwartet. Die fehlende Energie
kann nur im Produktmolekül stecken und ist extrem hoch – das Molekül ist
also "heiß", wie auch von einigen Theoretikern vorhergesagt.
Dies bedeutet jedoch, dass in dem heftig schwingenden Produkt der kalten
Reaktion immer noch häufige Platzwechsel von Atomen möglich sind. Das in
interstellaren Gaswolken gebildete Molekül kann daher beide
geometrischen Formen annehmen, während es seine hohe innere Energie
allmählich, ähnlich wie eine langsam erlöschende Glühbirne, in die
Umgebung abstrahlt. Sehr häufig, in etwa der Hälfte aller Fälle,
entsteht dabei das energiereiche Isomer. Sein Auftreten in den kalten
interstellaren Molekülwolken spiegelt also - wie jetzt im Labor belegt -
seinen dortigen Entstehungsprozess durch einen weiten Umweg über
ionisierende Strahlung wider.
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