Was verschwindende Antineutrinos verraten
Redaktion
/ idw / Pressemitteilung des Max-Planck-Instituts für Kernphysik astronews.com
9. November 2011
Physiker des Double-Chooz-Experiments haben das
Verschwinden von Antineutrinos über eine kurze Distanz nachgewiesen. Das
Resultat wurde heute auf einer Fachkonferenz in Seoul vorgestellt. Es hilft, den
bislang unbekannten dritten Neutrino-Mischungswinkel zu bestimmen, eine
fundamentale Eigenschaft mit wichtigen Konsequenzen für die Teilchen- und
Astroteilchenphysik.
Photovervielfacher
im Inneren eines der Double-Chooz-Detektoren.
Foto: Double-Chooz-Kollaboration |
Neutrinos sind die häufigsten aber zugleich am schwierigsten nachzuweisenden
Teilchen im Universum. Sie existieren in drei Arten, "Flavour" genannt, und seit
den späten 1990er Jahren ist ihre spezielle Eigenschaft bekannt, dass sie sich
von der einen in die andere Art umwandeln können. Dieses Phänomen wird
Neutrino-Oszillation genannt und es folgt daraus, dass Neutrinos eine Masse
haben müssen.
Neutrino-Oszillationen sind gegenwärtig ein Feld intensiver Forschung mit
einer Reihe von Experimenten, die nach einer vollständigen Beschreibung der
zugrunde liegenden Mechanismen suchen. Neutrinos entstehen auf vielfältige
Weise, wie beispielsweise in Fusionsprozessen im Inneren der Sonne oder wenn
kosmische Strahlung auf die Atmosphäre trifft.
Das Double-Chooz-Experiment widmet sich der Messung von
Neutrino-Oszillationen mit bisher unerreichter Präzision, indem es Antineutrinos
beobachtet, die in dem benachbarten Kernreaktor bei Chooz in den französischen
Ardennen entstehen. Double-Chooz begann vor sechs Monaten mit der
Datenaufnahme. Auf der LowNu-Konferenz in Korea haben die beteiligten
Wissenschaftler ihre ersten Ergebnisse angekündigt und über neue Daten
berichtet, die im Einklang mit einer Oszillation über kurze räumliche Distanz
stehen. Das Resultat basiert auf der Beobachtung des "Verschwindens" von
(Anti-)Neutrinos gegenüber dem erwarteten Neutrinofluss aus dem Kernreaktor.
Den drei verschiedenen Neutrino-Flavours entsprechen jeweils als Gegenstück
die drei geladenen Leptonen: Elektron, Myon und Tau. Die Oszillationen hängen
von drei Mischungsparametern ab, von denen zwei relativ groß sind und bereits
gemessen wurden. Der dritte Mischungswinkel, genannt "theta13", war bisher nur
ungenau bekannt; es konnte lediglich eine Obergrenze hierfür angegeben werden (astronews.com
berichtete).
Aus der Vermessung des "Verschwindens" von elektronischen Antineutrinos hat
die Double-Chooz-Kollaboration jetzt Hinweise auf eine Oszillation und
einen Wert für den dritten Mischungswinkel ableiten können. Die
Wahrscheinlichkeit, dass keine solche Oszillation vorliegt, beträgt nach den
vorläufigen Resultaten nur 7,9 Prozent. Die Bestimmung dieses letzten
Mischungswinkels liefert eine kritische Größe für zukünftige Experimente, die
den Unterschied zwischen Neutrino- und Antineutrino-Oszillationen messen sollen.
Darüber hinaus verweist dies indirekt auf den Ursprung der Asymmetrie zwischen
Materie und Antimaterie im Universum.
"Der dritte Mischungswinkel ist das gegenwärtig noch fehlende Bindeglied in
der Neutrinophysik. Eine präzise Messung desselben ist der Schlüssel für das Tor
zu neuer Physik jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik und wir stehen
nun unmittelbar davor", sagt Herve de Kerret vom CNRS in Frankreich und Sprecher
der Double-Chooz-Kollaboration. Im Juni 2011 wurden in
Beschleunigerexperimenten erste Hinweise auf eine Oszillation von myonische in
elektronische Neutrinos, welche diesen dritten Mischungswinkel beinhalten,
gefunden. Durch die Messung des Verschwindens von elektronischen Antineutrinos
liefert die Double-Chooz-Kollaboration komplementäre und wesentliche
Indizien für die Oszillation, die ebenfalls den dritten Mischungswinkel
einschließt.
Double-Chooz betreibt zur Zeit einen "fernen" Detektor in einem
Abstand von etwa 1.000 Metern zu den Reaktorkernen. Die Genauigkeit der
Messungen wird sich mit der Zeit weiter erhöhen, wenn 2012 ein weiterer "naher"
Detektor im Abstand von 400 Metern in Betrieb genommen wird. Bei dieser
geringeren Distanz wird noch keine signifikante Umwandlung in Neutrinos anderer
Art erwartet. Durch die Kombination der Ergebnisse aus beiden Detektoren kann
theta13 mit noch höherer Präzision bestimmt werden.
Die Detektoren enthalten jeweils 10 Kubikmeter einer speziell für das
Experiment entwickelten organischen Flüssigkeit als Nachweismedium. Dieser
sogenannte Szintillator enthält Gadolinium, um die in der Wechselwirkung der
Antineutrinos aus den Reaktoren mit Protonen (Wasserstoffkernen) gebildeten
Neutronen einzufangen. Dabei entstehen Lichtblitze, die etwas später auftreten
als die Lichtblitze vom Zerstrahlen eines in derselben Reaktion entstandenen
Positrons mit einem Elektron. Zur Abschirmung ist die Nachweisflüssigkeit von
drei Schichten anderer Flüssigkeiten in Nylongefäßen umgeben. Die Lichtblitze
werden von 390 empfindlichen Photovervielfachern in elektronische Signale
umgewandelt. Das Datenaufnahmesystem wird die nächsten fünf Jahre Signale
registrieren und zur Auswertung aufbereiten.
Die Forscher am Max-Planck-Institut für Kernphysik (MPIK) haben mit der
Entwicklung der gadoliniumhaltigen Szintillatorflüssigkeit entscheidend zu dem
Experiment beigetragen. Sie mussten eine Gadoliniumverbindung finden, testen,
herstellen und reinigen, die in der organischen Flüssigkeit löslich und mehrere
Jahre stabil ist. In Zusammenarbeit mit japanischen Kollegen haben die
MPIK-Forscher außerdem die Photovervielfacher in einem speziell dafür gebauten
Teststand geprüft.
Die Double-Chooz-Kollaboration besteht aus Universitäten und
Forschungseinrichtungen in Brasilien, Deutschland, England, Frankreich, Japan,
Russland, Spanien und den USA. In Deutschland sind das Max-Planck-Institut für
Kernphysik in Heidelberg und die Universitäten Tübingen, TU München, RWTH Aachen
und Hamburg beteiligt.
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