Intergalaktische Unfallforschung
von Stefan Deiters astronews.com
22. Juni 2011
Durch eine detaillierte Untersuchung des Galaxienhaufens
Abell 2744 rekonstruierte ein internationales Astronomenteam, dass der Haufen
durch eine Kollision von gleich vier einzelnen Galaxienhaufen entstanden sein
muss. Durch diese galaktische Karambolage kam es zu einigen merkwürdigen
Effekten, die zuvor noch nie zusammen beobachtet wurden.
Der Galaxienhaufen Abell 2744. Für dieses
Bild wurden Daten von VLT, Hubble und Chandra
kombiniert. Das von Chandra beobachtete heiße Gas
ist in rosa dargestellt. Überlagert in blau ist
die errechnete Massenverteilung des Haufens. Bei
der Masse handelt es sich größtenteils um Dunkle
Materie.
Bild: NASA, ESA, ESO, CXC & D. Coe
(STScI)/J. Merten (Heidelberg/Bologna) [Großansicht] |
Die Kollision von Galaxienhaufen gehört zu den wohl
faszinierendsten Ereignissen im Universum - und auch zu den lehrreichsten. Durch
die Untersuchung von Abell 2744, einer der komplexesten und ungewöhnlichsten
Galaxienhaufen überhaupt, konnte ein internationales Astronomenteam nun
rekonstruieren, wie dieser in den vergangenen 350 Millionen Jahren zu dem wurde,
was er heute ist. Dazu verwendeten sie mehrere leistungsfähige Teleskope - auf
der Erde und im Weltall.
"Wie bei einem Autounfall anschließend nach dem Unfallhergang
gefahndet wird, konnten wir unsere Beobachtungen dieser kosmischen Karambolage
dazu nutzen, die Geschehnisse zu rekonstruieren, die sich über einen Zeitraum
von mehreren 100 Millionen Jahren ereignet haben müssen", erläutert Julian
Merten vom Institut für Theoretische Astrophysik der Universität Heidelberg,
einer der leitenden Wissenschaftler der Studie. "So lernen wir etwas darüber,
wie Strukturen im Universum entstehen und wie die verschiedenen Formen von
Materie miteinander wechselwirken, wenn sie aufeinandertreffen."
"Wir haben dem Galaxienhaufen den Spitznamen 'Haufen der Pandora' gegeben, da
durch die Kollision so viele merkwürdige Phänomene sichtbar wurden", ergänzt
Renoto Dupke von der University of Michigan, der auch zum Team gehörte.
"Einige dieser Phänomene hat man zuvor noch nie beobachtet." Für die Studie
wurden Untersuchungen des Haufens mit dem Very Large Telescope (VLT)
der ESO, dem Weltraumteleskop Hubble, dem japanischen Subaru-Teleskop
und dem NASA-Röntgenteleskop Chandra kombiniert. Die Ergebnisse werden
in der Fachzeitschrift Monthly Notices of the Royal Astronomical Society
veröffentlicht.
Die Galaxien in Abell 2744 sind auf den Bildern des VLT oder von Hubble
deutlich zu erkennen. Sie machen allerdings weniger als fünf Prozent der
Haufenmasse aus. Etwa 20 Prozent der Masse sind Gas, das nur im Röntgenbereich
zu sehen ist. Bei rund 75 Prozent handelt es sich um Dunkle Materie, die man gar
nicht direkt beobachten kann. Um aber herauszufinden, was genau in Abell 2744
vor sich geht, mussten die Astronomen alle drei Bestandteile des Galaxienhaufens
kartieren.
Besonders schwierig ist dies natürlich bei der Dunklen Materie, die sich nur
durch ihre gravitative Anziehungskraft verrät. Die Astronomen bedienten sich
daher eines Tricks und nutzten ein als Gravitationslinsen-Effekt bekanntes
Phänomen. Das Licht entfernter Galaxien wird nämlich durch große Massenansammlungen
abgelenkt. Aus diesem Grund erscheinen auf den Bildern von Hubble und
dem VLT
einige Galaxien im Hintergrund etwas verzerrt. Durch eine gründliche Analyse
dieser Verzerrungen lässt sich dann die Massenverteilung des Haufens bestimmen
und damit auch die der Dunklen Materie.
Die Verteilung des heißen Gases konnten die Wissenschaftler dann mit Hilfe
des Röntgenteleskops Chandra ermitteln. Durch diese Beobachtungen erfuhren
sie zudem auch mehr über Geschwindigkeit und den Winkel mit der die Komponenten
kollidierten. Die Ergebnisse hielten einige Überraschungen bereit: "Abell 2744
scheint innerhalb der letzten rund 350 Millionen Jahre aus vier einzelnen
Galaxienhaufen in einer Reihe von Kollisionen entstanden zu sein", fasst
Dan Coe vom Space Telescope Science Institute in Baltimore, ein weiterer Leiter
der Studie, die Ergebnisse zusammen. "Die komplizierte und ungleichmäßige
Verteilung der verschiedenen Arten von Materie ist sehr ungewöhnlich und
faszinierend."
Durch den komplexen Zusammenstoß scheinen sich Teile der Dunklen Materie und
des heißen Gases voneinander getrennt zu haben, so dass sie sich jetzt in
unterschiedlichen Regionen voneinander und getrennt von den sichtbaren Galaxien befinden.
Damit lassen sich in Abell 2744 verschiedene Phänomene in einem Haufen
beobachten, die zuvor nur einzeln untersucht werden konnten (astronews.com berichtete).
So ist in der Nähe des Zentrums des Haufens ein von den Forschern als
"Bullet" ("Geschoß") bezeichneter Bereich erkennbar, der
dort entstanden ist, wo das Gas eines Haufens auf das eines anderen getroffen ist und sich
so eine
Stoßwelle ausgebildet hat. Die Dunkle Materie hingegen wurde dadurch nicht
beeinflusst und hat sich einfach weiterbewegt. In anderen Regionen des Haufens
finden sich Galaxien und Dunkle Materie, aber kein heißes Gas. Das Gas, so die
Vermutung der Astronomen, könnte während der Kollision praktisch abgestreift
worden sein.
Im äußeren Bereich des Haufens gab es weitere Überraschungen: So
entdeckten die Wissenschaftler in einer Region sehr viel Dunkle Materie jedoch
keine hellen Galaxien oder heißes Gas. Sie fanden zudem eine offenbar
herausgeschleuderte Ansammlung von Gas,
die der zugehörigen Ansammlung Dunkler Materie vorauseilt und nicht etwa
nachfolgt. Diese merkwürdige Konstellation könnte Informationen über das
Verhalten von Dunkler Materie liefern und vielleicht auch darüber, wie die
einzelnen Bestandteile des Universums miteinander wechselwirken.
Die Astronomen sind bereits mit weiteren Untersuchungen von Abell 2744
beschäftigt, um noch mehr über diesen ungewöhnlichen und faszinierenden Haufen
zu erfahren.
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