Hallo Dgoe,
eben, so einfach ist das einfach nicht ...
Die Frage ist ja nun, ob die Entstehung der Translation eine notwendige Folge darstellt, die immer dann eintritt, wenn hinreichend viele und komplexe Moleküle - beim irdischen Beispiel eben RNA, anderswo vielleicht etwas abgewandelte Arten, die ebenfalls über Matrizeneigenschaften wie auch Katalysatoreigenschaften verfügen - in einem Reaktionsraum zusammenkommen und über längere Zeit hinweg angereichert in einer Art Durchflussreaktor verbleiben, oder aber, ob es sich um ein zufälliges Resultat handelt, das bei identischen Ausgangsbedingungen zu einem anderen Resultat hätte führen können, weil nicht kalkulierbare zufällige Wechselwirkungen mit anderen - zufällig vorhandenen Molekülen - auf eine Weise auf das Reaktionssystem rückkoppeln, dass die Entstehung der Translation unterbleibt.
Grundsätzlich einig ist man sich, dass die Entstehung der Translation keinen Verstoß gegen die Naturgesetze darstellt. Alles fand im Einklang mit dem Wirken eben jener Gesetze statt, die wir aus Physik und Chemie kennen. Insofern müssen wir hier nicht neue Gesetze aufstellen, die die Physik und/oder die Chemie ergänzen. Wäre die Translation nicht entstanden, wären Physik und Chemie nicht hinsichtlich ihres naturgesetzlichen Grundgerüsts betroffen. Das Dasein oder Nichtdasein von Translation hat also insofern mit der Gültigkeit von Physik und Chemie nichts zu tun, weil sie keine direkte Folge der Naturgesetze darstellt, die diese beiden Grundlagenwissenschaften konstituieren. Als indirekte Folge des Wirkens physikalischer und chemischer Gesetze ist die Translation natürlich dennoch mit Physik und Chemie verbunden, weil ja physikalische und chemische Prozesse ablaufen, um am Ende in der Summe den Translationsprozess stattfinden zu lassen. Translation ist also eine Möglichkeit, die im Rahmen der geltenden Naturgesetze zulässig ist.
Ein anderes Problem ist jedoch, ob diese Möglichkeit aus den Naturgesetzen dergestalt ableitbar ist, dass sie über eine bestimmte Kombination dieser Gesetze zugleich auch eine gesetzmäßige Folge bestimmter Ausgangsbedingungen darstellt oder ob das nicht der Fall ist. Wie Bernhard bereits geschrieben hatte, ist es mit Hilfe der Quantenmechanik z.B. möglich, das Reaktionsverhalten bestimmter Moleküle unter Berücksichtigung mehrerer physikalischer Faktoren (z.B. Druck, Temperatur, Strahlung usw.) detailliert zu beschreiben. Eventuell kann man das vielleicht auch dahingehend ausbauen, bestimmte Stoffwechselvorgänge, wie z.B. den Krebs-Zyklus quantenmechanisch zu modellieren, um auszutesten, wie sich bestimmte Reaktionsverläufe verändern, wenn man die Rahmenbedingungen verändert. Das Forschungsfeld der Synthetischen Biologie zeigt, dass man sowohl Matrizen wie auch das Aminosäure-Inventar für Proteine verändern kann und trotzdem lebendige Zellen erhält, weil der Translationsmechanismus und der enzymatische Kontext immer noch so funktionieren, dass das Gesamtsystem nicht kollabiert.
Egal, was man anstellt: Ein Translationsmechanismus ist das Non plus ultra, um eine Zelle lebendig zu erhalten. Man kann die einzelnen Reaktionsschritte, die bei der Translation ablaufen, quantenmechanisch durchrechnen, mit verwandten Molekülen substituieren usw., aber aus der Beladung einer tRNA mit einer bestimmten Aminosäure folgt nicht, was danach damit geschieht. Die Anlagerung mit der Anticodonschleife an das passende Codon-Triplett auf dem mRNA-Strang ist aus der beladenen tRNA nicht ableitbar. Ebenso ist umgekehrt aus einer synthetisierten mRNA nicht ableitbar, dass diese als Matrize für die Synthese eines Polypeptidstrangs verwertet wird, weil aus rein chemischen Gründen die Nucleotidsequenz der mRNA mit der daraus synthetisierten Peptidsequenz nichts zu tun hat. Dass sich das am Ende so ergibt, ist eine Folge des Zusammenwirkens mehrerer Prozesse, die jeweils für sich nicht aufeinander bezogen sind, sondern autonom und isoliert voneinander ablaufen. Dass das Resultat am Ende eins ist, womit der Gesamtkontext etwas "sinnvolles" anfangen kann, ergibt sich aus der Aktivität des Gesamtkontextes als Ganzes und hat mit der zugrundeliegenden Chemie und Physik überhaupt nichts zu tun.
Von daher sehe ich beim derzeitigen Wissensstand nicht, dass sich Translation als direkte Folge von Physik und Chemie ableiten ließe, sondern - nachdem sie durch derzeit nicht reproduzierbare Zufallsprozesse entstanden ist - eine eigene Qualität darstellt, die über Physik und Chemie hinausweist in den Bereich der Biologie. Es gibt meines Wissens auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass Translation ableitbar wäre. Dass sie spontan entstanden ist, ist evident. Dass sie sich im Rahmen der Gesetze von Physik und Chemie vollzieht, ist gesichert. Dass man auf das Entstehen von Translation schließen kann, wenn man die zugrundeliegende Physik und Chemie kennt, ist nirgends erkennbar, geschweige denn gesichert oder gar evident.
Frozen Accident hört sich gut an, aber schließt das die anderen beiden aus?
Nein, natürlich nicht. Deshalb wurden die anderen beiden Varianten ja mit berücksichtigt. Denkbar sind auch Mischvarianten, wo ein Teil der Codonbelegung über Frozen Accident erfolgte (betrifft insbesondere die einfacheren Aminosäuren, wie Glycin, Alanin oder Valin) und der Rest über ARM sowie CRM belegt wurde. Der von Wolf und Koonin beschriebene "Arginin-Fall" von Yarus u.a. zeigt, dass komplexe Seitengruppen durchaus hätten dazu führen können, dass über die ARM- oder CRM-Wege neue Aminosäuren in den genetischen Code fixiert wurden. Ob sich das im Nachhinein überhaupt lückenlos rekonstruieren lässt, ist allerdings zweifelhaft.
Viele Grüße!