Zeitliche Paradoxien in der Rede vom Urknall: ein Kommentar
Hallo Leute,
nach der Lektüre eurer interessanten Beiträge in diesem Forum möchte ich einen Aspekt noch mal vertiefen, der mir schon immer Kopfschmerzen bereitet hat, nämlich die Rede von Zeit in Aussagen über den Urknall. Ich wüsste mal gern, wie ihr darüber denkt:
In popularwissenschaftlicher astronomischer Literatur ist immer wieder davon die Rede, dass das Universum und mit ihm Raum und Zeit vor 13,7 Mrd. Jahren entstanden seien. Bei euch, @ TomS und Mac, lese ich ein Unbehagen und ein (vergebliches) Bemühen um Verständnis heraus, wie wir das zu verstehen haben. Mich wundert oft, dass Aussagen wie die gerade genannte selbst von Fachleuten so ohne jedes Bewusstsein für die begriffliche Problematik vorgetragen werden, die davon logisch impliziert wird. Ich versuche das mal auf den Punkt zu bringen, so gut ich es spontan kann:
Dass das Universum vor 13,7 Mrd. Jahren entstanden ist, das ist soweit eine vollkommen verständliche Aussage. Wir verstehen das aber nur deshalb und solange überhaupt als ein zeitliches Ereignis (ein Ereignis in der Zeit), wie wir einen Zeitpunkt davor (vor dem „Urknall“ vor 13,7 Mrd. Jahren) voraussetzen, zu dem es das, was da entstanden sein soll (das Universum), noch nicht gab, und einen Zeitpunkt danach, an dem das Besagte (das Universum) dann da war (der Übergang zwischen den beiden Zeitpunkten der Nicht-Existenz und der Existenz wird „Entstehen“ genannt). Nur indem wir ein Früher und Später annehmen, können wir das, was da geschieht, überhaupt als ein Ereignis, etwa als „Urknall“ verstehen.
Doch hier entsteht nun ein Problem, wenn wir belehrt werden, die Zeit selbst sei erst mit dem „Urknall“ vor 13,7 Mrd. Jahren entstanden. Dadurch wird verneint, dass es einen Zeitpunkt vorher gab, und damit wird eine zentrale Bedingung dafür verletzt, dass wir das fragliche Ereignis, den „Urknall“, die Entstehung des Universums vor 13,7 Mrd. Jahren, überhaupt noch als zeitliches Ereignis verstehen können. Und daraus folgt: Aussagen wie diese: die Zeit ist vor 13,7 Mrd. Jahren entstanden, sind unsinnig. Denn entweder sie machen mit „vor 13,7 Mrd. Jahren“ eine verständliche Zeitangabe, dann müssen wir (gegen die Astrophysiker) eine frühere Zeit noch vor jenem Zeitpunkt annehmen, als der „Urknall“ noch nicht stattgefunden hatte (und eine Zeit danach, als er und das Universum da waren). Oder wir nehmen (mit den Astrophysikern) an, dass es keine frühere Zeit gab, dann können wir die Worte „vor 13,7 Mrd. Jahren“ nicht mehr als Bestimmung eines („Urknall“-) Ereignisses in der Zeit verstehen, mehr noch: wir verstehen gar nicht mehr, was es überhaupt heißen soll, dass sich da etwas (genannt „Urknall“) ereignet.
@ TomS, was mir bei deinem Signum einfällt: Diese begriffliche Reflexion ist eine Anwendung dessen, was Wittgenstein geschrieben hat: „Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: […] immer wenn ein anderer etwas Metaphysisches sagen wollte [wie: die Zeit sei mit dem Urknall entstanden], ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in seinen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat.“ So Wittgenstein in § 6.53 des „Tractatus Logico Philosophicus“, wo auch der von dir zitierte Spruch mit der Leiter herkommt. Nun muss man nicht so weit gehen wie Wittgenstein am Ende: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“. Aber den Paradoxien und begrifflich-logischen Widersprüchen, die hier kursieren, sollte man, wie ich meine, mal konsequent nachgehen.
Ich gehe hier nicht so weit, den Astrophysikern vorzuwerfen, dass sie mit solchen Sätzen bloßen Unsinn von sich geben, weil ich den Eindruck habe, dass sie hier nur zwei verschiedene Zeitverständnisse miteinander vermengen, allerdings ohne das zu erklären: (a) unser Alltagszeitverständnis, nach dem es zu jedem beliebigen datierbaren Zeitpunkt einen früheren und späteren Zeitpunkt gibt; deshalb ist diese Zeitdimension auch unendlich und es kann keinen „Anfang in der Zeit“ geben sowie keinerlei Denkverbote in eine Vergangenheit beliebig weit vor dem „Urknall“. Das andere Zeitverständnis ist offenkundig (b) die zusammengeschriebene „Raumzeit“ aus der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART).
Der zeitlogische Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man die Aussage der popularwissenschaftlichen Astrophysiker so versteht: Das Universum, und mit ihm „die Raumzeit“-nach-(b) (d. h. nach Begriffen der ART), sind "vor 13,7 Mrd. Jahren"-nach-(a) entstanden (d. h. „vor 13,7 Mrd. Jahren“ verstanden nach unserem gewöhnlich-sprachlichen Zeitverständnis). Damit verschwindet der eingangs genannte Widerspruch, da es die ART-„Raumzeit“ in Begriffen unseres gewöhnlich-sprachlichen Zeitverständnisses eben nicht immer gegeben hat, sondern wir eine Zeit denken können (und müssen), nämlich vor dem „Urknall“, als es sie noch nicht gab. Das eröffnet ferner den nötigen zeitlichen Spielraum, um über die physikalischen Bedingungen in einer Zeit vor dem „Urknall“ theoretisch nachzudenken, wie oben schon angemerkt wurde – was ja andernfalls begrifflich ausgeschlossen wäre.
Einer ähnlichen kritischen Revision sollte man m. E. auch die Redeweisen von „Singularitäten“ unterziehen. Unbestritten ist, dass es kollabierte Sternenreste im Universum gibt, die aufgrund ihrer enormen Schwerkraft (u. a. mit einer Fluchtgeschwindigkeit höher als die Lichtgeschwindigkeit) dunkel geworden sind, mit einem Wort: dass es „Schwarze Löcher“ gibt. Aber diese Objekte als „Singularitäten“ zu deuten, in denen Materie/Energie auf einen Punkt mit der Ausdehnung Null konzentriert ist, die mithin eine unendliche Dichte haben und in denen „die Zeit stillsteht“ – mit Deutungen wie dieser sind wir wieder bei (sorry) schlechter Metaphysik. Jedem von uns ist bei näherem Nachdenken klar, dass dieses Konstrukt nicht nur eingestandenermaßen physikalisch nicht mehr beschreibbar ist, sondern schlicht begrifflicher Unsinn. Glaubt denn wirklich einer, der nur kurz selbst darüber nachdenkt, dass es ausdehnungslose „Punkte“ mit unendlicher Dichte im physikalischen Universum geben kann? Und dass dort „die Zeit stillsteht“? Wenn man sich à la Wittgenstein vor Augen führt, was die Bedingungen für eine sinnvolle Anwendung von Begriffen wie „Zeit“ und „stillstehen“ sind, wird man sich schnell klar darüber, dass „die Zeit“ ebenso wenig „stillstehen“ kann wie sie einen „Anfang“ haben kann.
Auch hier gehe ich davon aus, dass die theoretischen Physiker durchaus nicht derlei Unsinn im Kopf haben, wenn sie so reden. Meiner Diagnose nach haben wir es hier mit verschiedenen Begriffssystemen zu tun, die nicht ohne Weiteres ineinander überführbar sind. Aber die Physiker geben uns keinen Aufschluss darüber, was aus ihren physikalisch wohldefinierten Raum- und Zeitbegriffen wird, wenn sie diese einfach in unsere Alltagssprache überführen. Dass dieser naive Transfer in Fragen wie dem „Urknall“ oder „Singularitäten“ misslingt und in Paradoxien führt, sollte uns Anlass geben, zurückzufragen, wie, wenn überhaupt, die Raum-Zeit-Begriffe in der theoretischen Physik in unseren alltagssprachlichen Raum-Zeit-Begriffen gedeutet werden können, ohne dass es zu groben Missverständnissen kommt.
Manchmal denke ich, dass den Astrophysikern und theoretischen Physikern, die sich öffentlich zu Wort melden, ein wenig methodische Selbstreflexion in dieser Hinsicht und auch ein wenig Bescheidenheit guttun würde. Michio Kaku, der oben ja schon zitiert wurde, war immerhin bescheiden genug, um in einer Doku mal zu erklären: der Ausdruck „singularity“ bedeute eigentlich: „we don’t know“, m. a. W.: Es ist ein Platzhalter für etwas, was wir nicht verstehen. In einer ähnlichen Lage scheinen wir zu sein, wenn es um den „Urknall“ geht.
Oder?
Natürlich kann man hier immer weiter theoretisieren, aber das führt, wie schon Immanuel Kant klar diagnostiziert hat, in Fragen wie dieser, ob es einen „Anfang in der Zeit“ gibt u. Ä., notwendig in Widersprüche. Ein Feld endloser Spekulationen, das ja zugegebenermaßen intellektuell spannend und inspirierend ist, aber eben endlos und unentscheidbar. Vielleicht kommen wir nicht umhin, zu akzeptieren, dass wir in diesen sogenannten „letzten Fragen“ nie definitives Wissen haben werden Kant nannte das Feld dieser Fragen die „Metaphysik“. Ich finde es merkwürdig, dass die moderne Physik hier zur Metaphysik wird, leider in Teilen zu einer logisch unreflektierten, die viele Missverständnisse weckt.
Beste Grüße in die Runde