Ob Ukraine oder Japan, nur die flächige Evakuierung als Katastrophenschutzmassnahme führt letztendlich zu den niedrigen Opferzahlen der Reaktorunglücke.
Das würde ich jetzt nicht einfach so ungeprüft in den Raum stellen. Im allergrössten Teil der Evakuierungszonen sind die typischen Strahlungs-Werte tief genug, dass keine gesundheitlichen Auswirkungen zu befürchten wären. Die Erstjahresdosis im Zentrum der Evakuierungszone in Fukushima beträgt typischerweise
2000 mrem (20 mSv/yr), das liegt unter dem Niveau, das AKW-Arbeiter pro Jahr absorbieren dürfen (
50 mSv/yr) und ist vergleichbar mit einem CT-Scan. So lange man also nicht behaupten will, dass AKW-Arbeiter generell mutwillig verstrahlt würden, kann man sicher auch nicht behaupten, dass die Evakuierungen zu niedrigen Opferzahlen führen würden (ausser vielleicht in den ersten paar Tagen). Es gibt im Prinzip drei Gründe, warum Kernenergie nur sehr wenige Tote pro kWh fordert: 1) AKW produzieren sehr grosse Mengen Strom mit vergleichsweise geringem materiellem Aufwand, 2) der Sicherheitsstandard ist generell sehr hoch, nicht zuletzt wegen der verbreiteten Angst vor Unfällen, 3) Radioaktivität ist bei weitem nicht so gefährlich und tödlich, wie das oft dargestellt wird.
Wenn man nun allerdings Evakuierungen beginnt abzuwägen, dann sollte man nicht vergessen, den steigenden Meeresspiegel als Folge der Nutzung fossiler Energien zu berücksichtigen, und berücksichtigen, dass radioaktiv verstahlte Gebiete nicht ewig verstrahlt bleiben, sondern nach Jahrzehnten bis Jahrhunderten wieder bewohnbar sind (was beim steigenden Meeresspiegel ja nicht der Fall ist). Ich bin mir ziemlich sicher (ohne das gerechnet zu haben), dass auch in einer entsprechenden Rechnung "Evakuiertenjahre pro Kilowattstunde" die Kernenergie viel besser abschliessen würde als z.B. die Kohle (und vermutlich auch als die Wasserkraft).
Ich stimme aber auch zu, dass man beim Bau künftiger Kernkraftwerke sowie bei der Priorisierung der Abschaltungen viel mehr noch als bisher berücksichtigen sollte, wieviele Menschen in der potentiellen Evakuierungszone leben, um die Zahl möglichst klein zu halten. Auch sollte man die Einrichtung eines globalen Schadensfonds anstreben, mit dem Menschen, die aus ihren Wohnungen vertrieben werden, pauschal entschädigt werden können (sie werden wohl auch jetzt entschädigt, aber ein kleines Land kann sich einen Atomunfall heute viel weniger leisten als ein grosses, mit der Folge, dass in ärmeren Ländern die Menschen schlechter entschädigt würden). Man bedenke, dass man diese Riskiokalkulation nicht unbedingt als "Verbrechen" sehen muss: Die Gesellschaft hat immer schon übergeordnete Ziele definiert, die so wichtig waren, dass dafür Menschen vertrieben / enteignet werden "durften", wie etwa den Bau von Autobahnen, Flugplätzen oder Bahnlinien. Dafür wurden diese Menschen dann aber auch entsprechend entschädigt. Die Versorgung eines ganzen Landes mit sauberer, CO2-freier Energie kann man durchaus als ein solches übergeordnetes Ziel ansehen, gerade auch wenn man bedenkt, wie klein die tatsächliche Chance auf eine Vertreibung wäre.