Lieber Herr Kollege Müller - wir beide lieben dieses Gebiet, ohne es von der Pieke auf studiert zu haben, was uns zu mutigerem Denken fähig macht. Nun sind wir aneinandergeraten. [...]
Die von mir behauptete Konstanz der Lichtgeschwindigkeit ist daher m.E. neu in der allgeimen Relativitätstheorie (natürlich nicht in der speziellen). Max Abraham hat sich in der zitierten Arbeit von 1912 vergeblich ein solches Erhaltenbleiben der wichtigsten Erkentnis von Einstein aus seiner Relativitätsarbeit von 1905 gewünscht. Er hatte aber selbst kein derartiges Resultat anzubieten. Die allgemeine Relativitätstheorie entstand dann erst 1915. Ich sehe auch hier keine Meinungsverschiedenheit zwischen uns.
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Bezüglich der Position von Abraham zu Einstein habe ich andere historische Kenntnisse, die aber nicht auf detaillierter Forschung beruhen. Wie ich es sehe, war Abraham kein "Widersacher" von Einstein, sondern im Gegenteil sein vielleicht größter Anreger. In der ersten Arbeit von Einstein über (spezielle) Relativitätstheorie von 1905 wird ausführlich die "transversale" und die "horizontale Masse" (mit Formeln) beschrieben, die Abraham veröffentlicht hatte (es fehlen zwar alle Zitate in dieser Arbeit, aber genauer kann man in einem solchen Fall gar nicht zitieren). Die Vorläufer-Arbeiten von Abraham waren von einer (noch nicht im Detail untersuchten) möglicherweise sehr großen Bedeutung für die spezielle Relativitätstheorie.
Später, 1912 oder 1913, publizierte Abraham als erster eine Tensortheorie der Gravitation mit Minkowski-Elementen. Genau das wurde dann in Einsteins Händen zur allgemeinen Relativitätstheorie. Denn Abraham machte immer irgendwelche Fehler oder kam jedenfalls nicht weit genug. Einstein hasste ihn aber deshalb keineswegs. Er bot ihm zum Beispiel seine Nachfolge auf den Zürcher Lehrstuhl 1913 an, wenn ich recht informiert bin. Ich glabe, dass die Abweisendheit von Einstein in dem von mir zitierten Paper von 1913 (oder habe ich es nicht zitiert) - er weigert sich darin, auf weitere Gegenargumente von Abraham einzugehen - nicht auf Abneigung, sondern auf mit Angst vermischtem großem Respekt beruhte. Er hätte die ART wahrscheinlich nicht hinbekommen, wenn er sich weiter hätte von Abraham beeinflussen lassen. Anregung ist gut, aber Hineinreden kann tödlich sein.
So kam es, vermute ich, dass c(r), die formale - aber wie ich gezeigt habe nur scheinbare - Inkonstanz von c in der Allgemeinen Relativitätstheorie (also ein von r abhängiger c-Wert) bestehen blieb und nicht im Sinne des Abrahamschen Vorschlags interpretativ aufgelöst wurde. Diese teilwiese Abwehrhaltung hat also der Wahrheitsfindung auf lange Sicht nicht geschadet (jedenfalls nicht bei der radialen Schwarzschildmetrik, der einfachsten Lösung der Einsteingleichungen). So kommt es mir vor: Ein Wechselspiel der Giganten.
Abraham war ebenso störrisch (oder pieksig) wie Einstein, Er lehnte das Nachfolgeangebot ab. Er war nur 4 Jahre älter. Er starb schon 1922 im Alter von 47 Jahren, ich weiß nichts Näheres darüber. Er wäre sicher eine lohnende Figur für eine geschichtliche Aufarbeitung.
[...] Danke noch einmal. Ihr Otto E. Rössler