@ralfkannenberg:
was wäre mit diesen Eisbären vor 5 Millionen Jahren passiert, als es noch keine Menschen gab ?
Deine Frage berührt natürlich exakt den Kern des Dilemmas: Welche Verantwortung hat der Mensch gegenüber der Natur? Was ist moralisches Handeln in einem Umfeld, das keine Moral kennt (weil Moral ein menschliches Konzept ist)?
Denn natürlich gab es vor 5 Mio Jahren, als es noch keine Menschen gab, auch keine Menschgemachte Klimaerwärmung, die den Lebensraum der Eisbären beschneidet und zerstört (übrigens gab es wohl auch keine Eisbären, weil das Polareis, der Lebensraum dieser Tiere, sich erst etwa zu jener Zeit gebildet hat - aber das spielt wohl keine grosse Rolle für die grundsätzliche Frage). Das heisst, auch wenn auch damals niemand den Eisbären hätte zur Hilfe eilen können, so hätte es doch eine grosse Restpopulation gegeben, so dass die Spezies als ganzes problemlos überlebt hätte. Heute jedoch gibt es, gerade wegen der menschlichen Klimaerwärmung, ohnehin schon deutlich weniger Eisbären, so dass jede verlorene Population letztlich die Spezies etwas näher an den Abgrund rückt. Wir könnten uns fragen: würden wir die Eisbären retten, wenn es sich um die letzten ihrer Art handeln würde? Wenn ja, warum?
Ich denke, das ist letztlich die entscheidende Frage: sind die Menschheit, die Zivilisation und all ihre zerstörerischen und schöpferischen Auswirkungen auf die natürliche Umwelt als "Naturkatastrophe" zu verstehen? Sind wir, ähnlich wie ein Asteroid, der einschlägt und die Dinosaurier ausrottet, eine zufällige Wendung in der Geschichte der Erde, eine unaufhaltbare Kraft, die die Evolution in eine neue, komplett andere Richtung lenkt (es gibt ja bereits Tiere, die sich an menschliche Städte adaptieren, Haustiere, Hauspflanzen, invasive Spezies (sowohl nützlich als auch schädlich) verbreiten sich global, etc.)? Oder haben wir viel eher Verantwortung darüber, haben wir die Verpflichtung (von wem?), die Welt möglichst nahe an ihrem ursprünglichen Zustand zu bewahren? Ist der Schutz der Umwelt auch dann angezeigt, wenn Menschen nicht davon profitieren? (z.B., ist es richtig, eine giftige und für die meisten Menschen eklig anzuschauende Spinnenart auszurotten, während eine ebenso giftige aber hübsch anzuschauende farbige Froschart bewahrt wird?)
Ich fiinde es schwierig, darauf eine abschliessende Antwort zu geben. Einerseits bin ich dafür, soviel wie möglich der natürlichen Umwelt zu bewahren: das ist letztlich unsere beste Langzeit-Versicherung gegen Zivilisationskollaps. Wenn die natürliche Umwelt in ihrer Diversität überlebt, haben unsere Nachfahren die Chance, nochmals neu anzufangen. In eine vergifteten, geplünderten, ökologisch verarmten Welt ist das sehr viel schwieriger bis unmöglich (je nach Grad dieses Zustandes). Anderseits aber ist auch die Natur selbst nicht statisch. Dinge ändern sich. Veränderung steckt im Kern der Evolution: Arten verschwinden und entstehen permanent, und nur der Zufall entscheidet, welche Arten überleben und welche Untergehen. Es ist gut möglich, dass der Mensch vielleicht unzählige Spezies auf der Erde ausrottet, aber gleichzeitig Welten im Universum schafft und mit Leben füllt, die sonst nie welches gekannt hätten. Dass auch "Haustieren" und "Parasiten" der menschlichen Zivilisation auf unzähligen Welten unzählige neue Lebensbäume entstehen, die es ohne den Menschen nie gegeben hätte. Spatzen und Tauben z.B. sind bereits sehr gut an die Nische "menschliche Städte" angepasst: warum sollten sie weniger Recht auf eine grosse evolutionäre Zukunft haben als die Säuger, die vor 65 Mio Jahren von einem Asteroiden praktisch eine leere Welt geschenkt bekamen? Eisbären jedoch scheinen bei ihrer Anpassungsfähigkeit an die menschliche Zivilisation eher das (damalige) Los der Dinosaurier gezogen zu haben.
Am ehesten könnte ich mich für einen Zwischenweg begeistern: etwa die Hälfte der bewohnbaren Landoberfläche sollten wir komplett verwildern lassen und sie der Natur zurückgeben. Zumindest so lange, bis wir völlig autarke, belebte Biosphären anderswo geschaffen haben - nur schon aus Eigeninteresse. Weiter sollten wir unsere Experimente mit der Atmosphärenzusammensetzung beenden, auch hier v.a. auch aus Eigeninteresse (versaufende Städte, Nahrungssicherheit, Flüchtlingsprobleme).