Hallo Dgoe,
Vielleicht hat es auch nur mit einem einzigen Protein begonnen, das für irgendetwas gut war, sich lohnte.
Aber dieses Protein müsste dann - um mit nur einer einzigen tRNA reproduzierbar zu sein - aus einer Abfolge von identischen Aminosäuren bestanden haben. Und Polymere, die nur aus einem Monomer bestehen, das mehrfach nacheinander abfolgt, sind z.B. vergleichbar mit Zellulosefasern, die ebenfalls nichts weiter sind als eine sehr lange Abfolge von Glucose-Molekülen. Mit solchen eintönigen Polymeren kann man, was Enzym-Eignung betrifft, nicht viel anfangen.
Eher zutreffend scheint mir zu sein, dass die ersten Proteine Zufallspolymere waren, wobei die Zufalls-Sequenzen eine gewisse Bandbreite an enzymatischen Reaktionen abdeckten. Das heißt, für jedes Zufalls-Protein bestand eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es irgendwie auch nützlich war, wenn auch nicht im Rahmen eines rückgekoppelten Synthesezyklus', sondern eben je nach Syntheseort entsprechend der dort gerade vorliegenden Bedingungen. Entscheidend für die spätere Entwicklung war dabei, dass das Reaktionsnetzwerk als Gesamtsystem nicht kollabierte, sondern sich irgendwie durch die wechselnden Umweltbedingungen durchhangelte.
In diesem Kontext war es zwar möglich, dass durch Zufall eine RNA-Sorte entstand, die eine Aminosäure spezifisch an sich binden konnte, aber dies bot weder einen selektiven Vorteil noch einen Nachteil. Es hätten durch Zufall auch weitere solcher spezifisch bindenden RNA-Sorten entstehen können, aber dies ist offenbar nicht geschehen. Stattdessen spaltete sich der eine tRNA-Vorläufer auf in nunmehr 20 verschiedene Arten. Die Frage ist dann, wieso das vor der Entstehung der Translation stattfand, die ja den Selektionsdruck erst mit sich brachte, der diese Aufspaltung hätte nach sich ziehen können. Vor der Translation war die Aufspaltung des einen tRNA-Vorläufers ohne selektiven Wert. Wenn es bei der "Erfindung" der Translation mehrere solcher Vorläufer gegeben hätte, die spontan entstanden wären und jeweils verschiedene Aminosäuren gebunden hätten, gäbe es hier kein Paradoxon. Diese Vorläufer wären integriert worden und fertig (analog dazu die schon erwähnten zwei aaRS-Klassen - es ginge also!). So aber bleibt das Ganze zunächst rätselhaft.
Für meine Vorstellung hilft der Weg des geringsten Widerstandes.
Der geringste Widerstand wäre Kollaps ins chemische Gleichgewicht. Da es sich im Verlauf der Lebensentstehung aber um einen chemischen Nichtgleichgewichtszustand gehandelt hat, kommt der nicht in Frage ...
Aber im Ernst: Natürlich konnten nur solche Wege beschritten werden, die durch das Fließgleichgewicht zugelassen wurden. Dass dabei im Verlauf der durch externen Energiezustrom beständig am Laufen gehaltenen chemischen Synthesen eine Reihe von Makromolekülen entstanden ist, ergibt sich als Notwendigkeit, sobald das Problem des anfallenden Reaktionswassers gelöst wird. Es entstehen also immer irgendwelche Polypeptide, weil Aminosäuren ein allfälliges Produkt abiogener Synthesen darstellen (Miller-Urey-Synthesen).
Mit RNA wird es schon schwieriger, weil spezieller. Man hat zwar vor fünf Jahren einen relativ einfachen und plausiblen Syntheseweg gefunden, der direkt ganze Nucleotide liefert, statt - wie vorher angenommen - die drei Einzelbestandteile mühsam und auf Umwegen miteinander kondensieren zu lassen (Sutherland u.a., 2009), aber insgesamt liegen die Dinge dennoch etwas komplizierter als bei Peptiden. Aber egal: Es ist ja offensichtlich RNA entstanden und diese hat sich gegenüber konkurrierenden Molekülarten durchgesetzt (Das ist übrigens ein Beispiel für "anthropische Selektion"!).
Was man aus den gangbaren und offenbar mit Notwendigkeit ablaufenden Polymer-Synthesen jedoch nicht a priori ableiten und mit einem bestimmten Wahrscheinlichkeitswert versehen kann, ist jedoch das Zustandekommen einer Kopplung zwischen der Reproduktion einer Polymerart und einer anderen Polymerart, wobei die Sequenz der einen Polymerart die Sequenz der anderen Polymerart eindeutig festlegt. Bei der Replikation von RNA ist das kein Problem: Das Prinzip der komplementären Basenpaarung (Adenin mit Uracil und Guanin mit Cytosin) sorgt hier für Eindeutigkeit in der Sequenz des kopierten Stranges.
Warum aber z.B. die Aminosäure Glycin u.a. über das Nucleotidtriplett GGG festgelegt wird, lässt sich aus der Struktur von Guanin nicht ableiten. Das ergibt erst "Sinn", wenn man die zugehörige tRNA mit dem Anticodon CCC mit in Betracht zieht. Und auch hier ergibt sich erst ein "Sinn", wenn man die Glycin-bindende aaRS berücksichtigt, die die Kopplung zwischen der Aminosäure und der tRNA bewerkstelligt. Doch selbst dieser "Sinn" erlangt noch keine "Bedeutung", wenn die Aminosäure nicht in einem Polypeptid mit Hilfe des Ribosoms eingebaut wird.
Die Dinge gestalten sich also erheblich komplexer und damit komplizierter, wenn man den rein chemischen Rahmen überschreitet und in Organisationsstrukturen vorstößt, die eher an Mechanik oder Maschinen erinnern als an reine Naturwissenschaft, auch wenn letztere natürlich die Basis alles weiteren ist. Wir haben es hier also mit einem echten Emergenz-Phänomen zu tun - also etwas Neues, das eine eigene Klasse von Wechselwirkungen darstellt - analog vielleicht zur Entstehung von Sprache und Schrift, die es möglich werden ließen, dass sich die menschliche Kultur von der Natur emanzipieren konnte (ohne freilich weiterhin auf die Natur als Basis angewiesen zu sein!).
Die große Frage ist nun, ob so etwas wiederholbar ist oder nicht. Damit meine ich nicht eine prinzipielle Wiederholbarkeit. Diese ist schon deshalb gegeben, weil es sich hier um natürliche Prozesse handelt, die abgelaufen sind. Wenn es gelingen kann, diese Prozesse exakt nachzustellen, kann man selbstverständlich Leben jederzeit neu synthetisch entstehen lassen. So weit sind wir zwar noch lange nicht, aber prinzipiell sehe ich da kein Problem, eher schon in der Erkenntnis, welche Prozesse es denn nun exakt sind. Die kann u.U. noch sehr lange dauern - eben weil die Begleitumstände sehr komplex gewesen sind. Die Frage ist eher, ob sich solche Bedingungen, die zum Entstehen des Lebens geführt haben, von selbst noch einmal einstellen oder ob es sich hierbei um die glückliche Verkettung sonst sehr unwahrscheinlicher Einzelursachen gehandelt hat, die sich spontan so nie wieder kombinieren.
Oder anders: Handelt es sich bei der Lebensentstehung um einen statistischen Prozess, der immer dann eintritt, wenn man einen Planeten mit Früherde-Eigenschaften (inklusive großen Mond) 1 Milliarde Jahre sich selbst überlässt, oder nicht? Wenn es sich um einen statistischen Prozess handelt, ist mit einer bestimmten Erwartungswahrscheinlichkeit zu rechnen. Wir können zwar aus den Naturgesetzen nicht ableiten, dass daraus mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit Translationsmechanismen entstehen, aber aus der Retrospektive lässt sich - genügend Beobachtungsdaten vorausgesetzt - ableiten, ob solche doch recht groben Voraussetzungen hinreichend sind, um Leben als notwendig entstehendes Begleitprodukt einer chemischen Evolution zu charakterisieren.
Das heißt, wir sind auf Beobachtungsdaten angewiesen, um die Frage nach Zufall oder Notwendigkeit der Lebensentstehung zu klären. Aus der Froschperspektive heraus lässt sich hierzu keine Entscheidung treffen, denn - wie oben ausgeführt - a priori ist da nichts zu machen. Translation übersteigt den Geltungsbereich der Chemie wegen der "sinnstiftenden" Mechanik, die den organisatorischen Kontext bereitstellt. Also können wir aus den reinen Naturwissenschaften nichts bezüglich irgendwelcher Wahrscheinlichkeiten ableiten. Mit der Inbetriebnahme des EELT (und hoffentlich noch weiterer Teleskop-Projekte mit nöch größerem Auflösungsvermögen) besteht erstmalig die Chance, die Atmosphären von erdgroßen Exoplaneten auf Biomarker zu untersuchen. Ein einziger positiver Befund brächte uns ein erhebliches Stück in der Erkenntnis unseres eigenen Ursprungs und unseres Stellenwerts im Universum voran, denn dann wäre u.a. auch Koonins Rechenexempel widerlegt ...
Viele Grüße!
P.S.: Derzeit arbeite ich an einer Darstellung zum Modell von
Wolf und Koonin zur Entstehung der Translation. Vielleicht schaffe ich es noch bis zum Wochenende.