Genau so ist es. Eine "gute" Theorie ist tragfähig und wertvoll aufgrund der zugehörigen Experimente. Wie man die Theorie formuliert ist dann eine andere Frage. Jeder der schon mal alte Originalliteratur gelesen hat, kennt das
.
Hallo Bernhard,
das ganze erinnert mich ein bisschen an meine allererste Vorlesung an der Uni überhaupt. Das war Analysis I (sie hiess Inifinitesimalrechnung I, aber das ist ja egal, auch wenn bei dieser Art zu zählen dann die "Analysis I" von Basel die "Analysis III" von Zürich war ...).
Wie auch immer, ich hatte eigentlich erwartet, dass man uns erklärt, wo man welches Gebäude findet, welche Formulare man alles ausfüllen muss, wo die Mensa ist, wann Vorlesungszeiten sind, wo sich die Toiletten befinden und solche Sachen halt.
Statt dessen schritt der Professor zur Tafel und schrieb: "Lemma 1".
Ich hatte das Wort "Lemma" noch nie gehört und da er handschriftlich schrieb, dachte ich erst , er habe "Lämmer" geschrieben und verstand auch überhaupt nicht, was das ganze mit jungen Schafen zu tun haben soll. Schliesslich aber flüsterte mir irgendeiner in der Bank zu, dass ein "Lemma" ein "Hilfssatz" sei.
Dann ging es als nächstes um Dedekind'sche Schnitte. Ich hatte ja eigentlich gemeint, ich wisse, was "reelle Zahlen" sind, ja ich wusste vom Gymnasium her sogar, was komplexe Zahlen sind (zumindest glaubte ich das zu wissen) und kannte sogar Quaternionen. Ok, in den korrekten algebraischen Zusammenhang konnte ich diese damals noch nicht setzen, aber wie auch immer: ich verstand mit den Dedekind'schen Schnitten schlichtweg nur Bahnhof, und den Luxus, uns Studierenden mitzuteilen, dass diese verwendet werden, um reelle Zahlen sauber zu definieren, hatten wir natürlich nicht, da hätten wir irgendwie selber drauf kommen sollen.
Meine erste war eine der frustrierendsten Vorlesungsstunden meines Lebens überhaupt.
Trotzdem will ich an dieser Stelle nicht verschweigen, dass diese Einführung via Dedekind'sche Schnitte natürlich zahlreiche Vorteile mit sich bringt; man braucht nicht zu verstehen, was "Konvergenz" ist, man braucht nicht zu wissen, was eine "Cauchy-Folge" ist und man braucht auch nicht zu verstehen, wie man die Menge aller konvergierenden Cauchy-Folgen rationaler Zahlen zur Menge der reellen Zahlen "vervollständigt"; zudem braucht man sich auch nicht mit all' den Problemen des "Kontinuums" und der "Überabzählbarkeit" herumzuschlagen.
Ich persönlich hätte es jedenfalls bevorzugt, wenn man uns die reellen Zahlen naiverweise definiert hätte, dann all' die Epsilontik, mit der man dann Konvergenzen definieren und Cauchy-Folgen studieren kann und dann zum Abschluss des Semesters, wenn man dann sein Handwerk so halbwegs verstanden hat, die Definition mit Hilfe der Dedekind'schen Schnitte.
Vielleicht wusste aber der Professor, dass nach 2 Wochen ohnehin 80% der Anwesenden das Handtuch werfen würden, und wollte denen wenigstens die formal-korrekte Definition der reellen Zahlen mitgeben, also ohne naiverweise definierte Mengen, damit diese zwar nicht dumm, aber wenigstens nicht inkonsistent zu sterben brauchen.
Freundliche Grüsse, Ralf