Determinismus, Chaos und Ordnung

antaris

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Zwei Antworten auf Rückfragen an Prof. Neumaier kann ich schon zitieren, da ich die entsprechenden Antworten darauf von ihm im Physikerboard gefunden habe. Damit wird die Definition m.E. noch etwas klarer.

https://www.physikerboard.de/ptopic,399909.html#399909
Frage 1:
Ostseefan: Was ist ein lokales Gleichgewicht?

A.Neumaier: Lokales Gleichgewicht = thermisches Gleichgewicht in kleinen (mesoskopischen) Umgebungen, wo aber benachbarte Umgebungen nicht im Gleichgewicht sein müssen, also unterschiedliche Temperaturen haben können - man hat als ein Temperaturfeld. Klassisch wird lokales Gleichgewicht durch Fluiddynamik und Elastizitätstheorie modelliert, und davon gibt es in der statistischen Mechanik auch eine Quantenversion.

Frage 2:
Ostseefan: Warum gibt es in abgeschlossenen Systemen kein Chaos? Im Universum gibt es doch auch chaotische Teilsysteme, die wiederum Bestandteil des abgeschlossenen Systemen Universum sind.

A.Neumaier: Dass ein (approximativ beschriebenes) Teilsystem chaotisch ist, bedeutet noch nicht, das das gesamte System chaotisch ist. Aber ich habe zu allgemein formuliert. Es gibt tatsächlich klassische abgeschlossene chaotische Systeme. Statt des zitierten Satzes gilt also nur folgende qualifizierte Version:

"In wechselwirkenden Quantenfeldtheorien entsteht Chaos (klassisch und quantenmechanisch) in der Regel in berechenbaren Modellen, die man durch eine reduzierte approximative nichtlineare Beschreibung eines Teilsystems von Interesse konstruiert."
 

antaris

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Die Antwort (Prof. Neumaier hat nichts dagegen, dass ich die Informationen teile). Wie immer sehr ausführlich und auf den Punkt bringend.(y)

5. zeigt, dass in der Natur Abweichungen vom Ideal auftreten (können). Das ist mir besonders wichtig zu erwähnen, denn kein Berg sieht aus wie der andere und Farnblätter unterscheiden sich generell auch vom mathematischen Ideal...
7. spicht für Tom seine Aussage, dass alle Trajektorien chaotisch sind (sensitiv auf Anfangsbedingungen) aber kein Chaos auftreten muss.
Man muss also zwischen chaotischen System und dessen (Teil-)Menge( n), welche sich im "Zustand Chaos" befinden können, unterscheiden.
Frage antaris:
Können real in der Natur auftretende chaotische Effekte in einem gewissen Maß vom mathematischen Ideal (nicht-chaotisch vs. chaotisch) abweichen?

Antwort A.Neumaier:
  1. Chaos ist eine (vorhandene oder nichtvorhandene) mathematische Eigenschaft eines deterministischen dynamischen Systems. Ein solches hat immer einen (bis auf Isomorphie) wohldefinierten Phasenraum X, nämlich eine Menge, so dass (i) jeder Realisierung des Systems zu jedem Zeitpunkt t genau ein Punkt x(t) in X zugeordnet ist und (ii) jedes x_0 in X und jeder Anfangszeitpunkt t_0 genau eine Realisierung für alle t>=t_0 mit x(t_0)=x_0 festlegt - die durch (x_0,t_0) definierte Trajektorie. Chaos am Phasenraumpunkt x_0 charakterisiert ein bestimmtes, _irreguläres_ Verhalten der _exakten_ Trajektorien in einer Umgebung von x_0 nach beliebig langer Zeit.
  2. Ob Chaos herrscht, ist also eine Eigenschaft, die vom Phasenraumpunkt abhängt, aber nicht von irgendwelchen Störungen. In vielen Hamiltonschen Systemen gibt es Bereiche im Phasenraum, in denen Chaos herrscht, und andere, in denen das nicht der Fall ist; das KAM-Theorem zeigt, dass das ein recht typischer Fall ist. Dazwischen gibt es (oft fraktale) Bereichsgrenzen - das, was Sie Kipppunkte genannt haben.
  3. Ein System nennt man aber schon chaotisch sobald es eine (und dann schon undenlich viele) chaotische Trajektorien gibt. Ein Beispiel ist die Hydromechanik, wo ein Punkt im Phasenraum durch Druck- und Geschwindigkeitsfeld gegeben sind. Laminare Strömungen (was kleinen Geschwindigkeiten, also kleinen Reynoldszahlen entspricht) sind nicht chaotisch, turbulente (mit grossen Geschwindigkeiten, also grossen Reynoldszahlen) schon. Beides zusammen an örtlich unterschiedlichen Stellen kann auch vorkommen; dazu kann man den Chaosbegriff bei partiellen Differentialgleichungen auf räumlich lokale Bereiche verallgemeinern.
  4. Die Lyapunovzeit ist im Fall chaotischen Verhaltens ein gewisses Mass dafür, wie lange es dauert, bis sich das Chaos substanziell bemerkbar macht.
  5. Die Natur ist kein mathematisches System, dort ist der Begriff Chaos daher nicht exakt definiert. Will man also mit voller Klarheit über Chaos reden, muss man immer ein deterministisches mathematisches Modell der interessierenden Aspekte der Natur betrachten - das kann man dann analysieren. Die Abweichungen der Natur vom Modell werden qualitativ über Fehlerabschätzungen interpretiert. Ist das Modell brauchbar, so ist das Verhalten der Natur qualitativ vergleichbar mit dem Modell und man kann die Begriffe/Argumente/Schlüsse als - je nach der Güte des Modells und wie genau die Anfangsbedingunen bekannt sind - mehr oder weniger gut für die Wirklichkeit gültig ansehen.
  6. Wenn man also sagt, dass unser Planetensystem chaotisch ist, meint man damit, dass ein idealisiertes Modell (von Punktsonne und Punktplaneten) mit Anfangsbedingungen, die denen unserer Planeten entsprechen, chaotisch ist.
  7. Sonne + 1 Planet ist die Keplersche Situation, mit elliptischen, parabolischen und hyperbolischen Bahnen. Kein Chaos, aber bei hyperbolischen Bahnen z.T. sensitive Abhängigkeit von den Anfangsbedingungen. Sonne und 2 Planeten ist im Allgemeinfall schon chaotisch (Poincare's 3-Körperproblem), aber nur in bestimmten Bereichen des Phasenraums (dessen Punkte hier die Liste der Orts-Impuls-Paare der Körper sind). Das System aus Sonne und inneren Planeten (bis zum Mars) scheint, wenn ich mich recht erinnere, stabil zu sein, während das System aus Sonne und Jupiter, Saturn und Uranus chaotisch ist (Lyapunovzeit in der Grössenordnung von 10 Millionen Jahre).
 
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antaris

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Das Ziel ist ein Bewusstsein für die Alltäglichkeit, der Art wie die Natur funktioniert, zu schaffen. Aus diesem Grund liegt mein Fokus hier auf alltäglich beobachtbare Beispiele, die von allen interessierten gleichermaßen nachvollzogen werden können.
Wenn chaotisches Wetter, Gravitation, Strömungen usw. noch nicht alltäglich genug Beispiele sind, dann noch folgende Gedanken:

Weniger greifbar aber dafür nicht weniger interessanter, sind m.E. Fragestellungen zu chaotischen Systemen in der Biologie. Prinzipiell sollte die gleiche hier erarbeitete Definition von chaotischen Systemen gelten. Die Anfangsbedingungen für biologisches Leben sind im allgemeinen und für jede Art relativ einfach zu bestimmen aber kann z.B. auch der Lyapunov-Exponent ermittelt werden? Was könnte der Lyapunov-Exponent und die Lyapunov-Zeit für eine Bedeutung haben? Vermischung spielt offensichtlich bei der Ernährung aber auch bei der Entstehung von Leben und dessen Fortpflanzung eine zentrale Rolle.

Sind z.B. keimende Samen sensitiv von den Anfangsbedingungen abhängig? Zeigt die Diversität der Flora und Faune, dass die Arten innerhalb der biologischen Evolution mittels Mutationen (Kipppunkte) exponentiell auseinanderdriften? Ist die biologische Evolution, nach obiger Definition, ein chaotisches System?
 
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antaris

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Vielleicht sind das eher Fragen für Biologen als für Physiker.
Wir sind hier in einem Forum mit breiten Themengebiete Astro**** und dazu im Themenbereich "Über den Tellerrand". Ich wollte die Alltäglichkeit der chaotischen Systeme zeigen aber warum nur in der Physik? Die Anfangsbedingungen sind auch in der Evolution stark von der Physik geprägt. Flora und Fauna bestehen aus Moleküle, Atome usw. und exponentielles biologisches Wachstum, sowie biologische Diversität sind auch Physikern geläufig. Wir können die Biologie und somit auch uns selbst nicht von der globalen Wellenfunktion, also dem Universum, ausschließen.

Die chaotischen Systeme sind ein interdisziplinares Gebiet und haben innerhalb vieler Wissenschaftsbereiche Überschneidungen. Es gab auch einen Zeitpunkt, wo die Chemie mehr oder weniger ein Teilgebiet der Physik wurde und ohne Chemie auch keine Biologie. Das gilt sogar ganz allegemein in der Astrobiologie.

Sind die chaotischen Systeme ein fundamentales Prinzip der Natur, auf dem die Strukturbildung im Universum beruht?
 
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antaris

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Ich glaube ich weiß, was du meinst. Aber die Formulierung ist schon …
Was meinst du? Er schreibt die inneren Planeten scheinen stabil zu sein aber waren sie das auch immer schon?

Dazu folgender Artikel
https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.231384098
For a two-body system (sun and one companion), there is a simple, elegant solution: a conic section (circle or ellipse, parabola or hyperbola). However, the presence of a third body (or in the case of the solar system, the sun, the nine major planets, and myriad minor bodies) allows no simple solution to these simple equations!

The orbital evolution of planetary orbits on giga-year time scales has been investigated recently via several numerical simulations. These have led to a most interesting conclusion that the orbits of the planets themselves evolve chaotically. The characteristic Lyapunov time is 5–10 million years. A new analytic theory (2) shows that chaos among the Jovian planets results from a delicate interaction—also a three-body resonance—among Jupiter, Saturn, and Uranus. The theory also confirms the numerical estimate of the Lyapunov time associated with this chaos and shows that the escape time of Uranus is long (1018 years), substantially longer than the lifetime of our sun.
Although the numerical simulations all indicate chaos in planetary orbits, in a qualitative sense the planetary orbits are stable—because the planets remain near their present orbits—over the lifetime of the sun. However, the presence of chaos implies that there is a finite limit to how accurately the positions of the planets can be predicted over long times. Of all of the planets, Mercury's orbit appears to exhibit changes of the largest magnitude in orbital eccentricity and inclination. Fortunately, this is not fatal to the global stability of the whole planetary system owing to the small mass of Mercury. Changes in the orbit of the Earth, which can have potentially large effects on its surface climate system through solar insolation variation, are found also to be small.
Takashi Ito discussed several properties that may be responsible for the long term stability of our solar system. Among these, the difference in dynamical separation between terrestrial and Jovian planetary subsystems seems to be quite interesting and important. The terrestrial planets have smaller masses, shorter orbital periods, and wider dynamical separation. They are strongly perturbed by the Jovian planets, which have larger masses, longer orbital periods, and narrower dynamical separation. As a subsystem, the Jovian planets are not perturbed by any other massive bodies.
Ito and Tanikawa (3) have performed a set of numerical experiments to understand how these differences between terrestrial and Jovian planets affect their long term stability. They have considered various kinds of terrestrial planetary subsystems with equal dynamical separations and determined their typical instability time scales under the disturbance from the massive Jovian planets. They find that the terrestrial planetary subsystems with smaller dynamical distances (<18RH) are likely to become unstable in a short time scale (<107 years). This rapid instability is caused by the strong gravitational perturbation from massive Jovian planets. Thus it seems that the present wide dynamical separation among terrestrial planets (>26RH) is possibly one of the significant conditions to maintain the stability of the planetary orbits in giga-year time spans.


Hier gibt es auch Zweifel an anfängliche Stabilität. Nicht zuletzt sind zahlreiche Sternensysteme mit jupiterähnlichen Planeten entdeckt worden, welche ihren Stern auf enge Bahnen umkreisen.
https://www.spektrum.de/magazin/schwerkraft-billard-im-sonnensystem/825879
 
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antaris

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keine Frage, aber schreib erstmal die biologischen Naturgesetze hin, bevor wir uns über deren chaotische Eigenschaften den Kopf zerbrechen können.
Wir werden hier wohl nicht klären können, wie Leben entsteht oder was genau die biologischen Naturgesetze sind. Das haben wir bei den anderen physikalischen Beispielen ja auch nicht gemacht, denn im Grunde sagt die Physik über detaillierte/komplexe Strukturbildung im Universum nicht so viel aus.

Aber was stand denn, nach aktuellem Forschungsstand, am Anfang der biologischen Evolution? Eine Dynamik zwischen Energie, die richtigen Atome in den richtigen Mengen, zusammen, zur richtigen Zeit, Wasser und deren ständiger Mischung. Selbst wenn die ersten organischen Moleküle "in Ruhe" in kleinste wassergefluteten Kammern porösen Gesteins entstanden, so waren die Atome m.E. mindestens lange Zeiträume der Dynamik der Brownschen Bewegung ausgesetzt, was eine ständige Durchmischung bewirkt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische_Evolution
 
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antaris

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antaris

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Ich glaube es sollte vor allem auch klar werden, was es aus Sicht der Logik bedeutet in einem vollkommen deterministischen Universum zu existieren, wenn diese Möglichkeit in Betracht gezogen werden soll oder kann.
Das gehört eher hier rein. Die tiefgreifendste Konsequenz ist m.E., dass die Entstehung des (sichtbaren) Universums genauso deterministischen Prozessen unterlegen sein muss, was zwangsläufig einer Ursache für die Wirkung Urknall bedingt, dennoch gleichzeitig ein passendes allgemeines Modell (allgemein die Chaostheorie) bereitsteht genau diese Strukturen abzubilden und damit schwerwiegende konzeptionelle Probleme der etablierten Kosmologie mit sich bringt.
 
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