@ Diethard:
Die Idee, neue Erkenntnisse erst zu bestätigen, wenn sie mit der beobachtbaren Realität übereinstimmen ist doch eigentlich naheliegend.
Nun ja, die diversen Mythen, die man sich ausgedacht hatte, waren ja so etwas wie die zeitgenössische "Wissenschaft". Wenn der Schamane mittels Trance in die Geisterwelt hinabstieg, um das Jagdglück zu beeinflussen, und die Jäger hinterher tatsächlich Jagdglück hatten, bestätigte das eindrucksvoll die Mythologie. Da Erfolge aufgebauscht und Misserfolge eher verdrängt werden, bewirkte das selektive Gedächtnis ein Übriges, Mythen für wahr zu halten und an die Nachkommen zu tradieren.
Gegen solche Mythen mit rationaleren Erklärungen anzukommen, ist aus mehreren Gründen schwierig. Die überlieferte Tradition als solche gewinnt mit zunehmendem Alter ein Eigenleben als ideologische Grundlage des sozialen Lebens der Gruppe, des Stamms, des Volkes usw. Wer also die Mythen entzaubert, untergräbt zugleich das ideologische Fundament der internen Hierarchie und rührt damit an der Machtfrage. Folglich bestehen sehr starke Beharrungskräfte, die eine Aufklärung von innen heraus erschweren. Es ist ja nicht so, dass man eben mal beim Schwätzchen am Lagerfeuer verschiedene Varianten der Welterklärung gegeneinander auf Plausibilität hin abwägt und am Ende darüber abstimmt - gewissermaßen als Mehrheitsentscheid, welcher Mythos gerade gültig sein soll. So etwas soll zwar schon vorgekommen sein, als Island im Jahr 1000 das Christentum annahm, stellt aber doch nur eine seltene Ausnahme dar.
Mit der Entstehung von Staaten setzten sich nach und nach die Mythen durch, die die siegreichen Völker verbreiteten, wobei es zu vielfältigen Mischformen kam, aus denen z.T. komplizierte Götterhierarchien erwuchsen, in denen sich die Götter der unterworfenen Völker wiederfanden - manchmal unter verändertem Namen, aber dennoch erkennbar - gewissermaßen als Beitrag zur Integration. Solche polytheistischen Mythen waren der Ausgangspunkt für Abstraktionen, die die Vielfalt der Göttergestalten unter einige wenige oder gar nur ein einziges göttliches Prinzip subsummierten, die ihrerseits durch Götter repräsentiert wurden. So gibt es im Hinduismus z.B. eine shivaitische Linie (abgeleitet von Shiva, dem Gott der Zerstörung, der zugleich das Prinzip "Zerstören" repräsentiert) und eine vishnuitische Linie (abgeleitet von Vishnu, dem Gott der Erhaltung, der das Prinzip des "Erhaltens" repräsentiert). Beide Linien erkennen zugleich Brahma als obersten Gott an, der das Prinzip "Erschaffen" repräsentiert. Alle drei Götter-Prinzipien (Brahma, Vishnu und Shiva) werden als "Dreiheit" (Trimurti) zusammengefasst und symbolisieren den Zyklus der Erschaffung, der Erhaltung und der Zerstörung der Welt, der sich anfanglos und endlos fortsetzt.
Dieses Beispiel zeigt, dass der Übergang vom religiösen und magisch-mystischen Denken hin zum wissenschaftlichen Denken allmählich und im Kontext mit der Gesellschaft entwickelt, in der die Vordenker verwurzelt sind. Damit sich wissenschaftliches Denken etablieren und schließlich in einer ausgeprägten Wissenschaftskultur entfalten konnte, bedurfte es hinreichend langer Zeiträume, damit sich die nötige gesellschaftlich-kulturelle Reife entwickeln konnte. Ohne diese Reife hätte sich das Klima weltanschaulicher Toleranz, die Fragen aushält, welche an den Kern des ideologisch Eingemachten gehen, nicht entfalten können. Zufällig geschah dies etwa zeitgleich vor etwa 2600 Jahren sowohl in Griechenland wie auch in Indien und China, wo Thales und Anaximandros aus Milet, Uddalaka aus Nordindien und Konfuzius begonnen haben, bei ihren Welterklärungen die Götter außer acht zu lassen. Karl Jaspers nannte diese Zeit, weil sie bedeutende Denker sowohl im Osten wie auch im Westen hervorbrachte, auch "Achsenzeit".
Aber bei vielen beobachtet man heute, das sie im Gegenteil eher ihr Heil in mystischen Vorstellungen suchen.
Das sehe ich auch mit Bedauern, aber ich werte das mal als allgemeines Krisensymptom, welches insbesondere dann verstärkt zum Vorschein kommt, wenn dem desillusionierenden Alltag entzaubernde Rationalität nicht angemessen erscheint. Da flüchtet man sich dann gern in realitätsferne Fantasy-Welten oder wird halt "spirituell" - was immer auch jeweils darunter verstanden wird ...