... habe ich in meinem persönlichen Umfeld sehr viele Menschen nicht deutscher Herkunft. Einige von denen finden das Migrationsverhalten unserer Bundeskanzlerin bedenklich und falsch. Was soll ich diesen Menschen entgegnen? Das sie nazistisches Gedankengut tragen und/oder verbreiten? Oder das sie einfach nur politisch zu ungebildet sind und das Große Ganze nicht verstehen?
Natürlich nicht
Ich denke, man muss das wie immer differenziert betrachten, und man muss insbs. für diese differenzierte Betrachtung werben. Unser wesentliches Problem im Umfeld der Flüchtlings- und Migrationsdiskussion ist doch - Gott sei Dank immer noch - nicht die Migration selbst, sondern die
wahrgenommenen - nicht unbedingt tatächlichen - Folgeprobleme sowie die oft unsachliche bis hin zu hetzerische Auseinandersetzung damit.
Wir hatten 2015 eine kurze Phase mit einer sehr hohen Anzahl an Flüchtlingen, aber das hat sich total gewandelt - auch aufgrund von Maßnahmen, über deren Vertretbarkeit man durchaus streiten kann, aber das wäre ein anderes Thema. Dominiert wird die Diskussion und natürlich insbs. da Gedankengut von extremen Rechten sowie uninformierten Mitläufern jedoch weiterhin von dieser vermeintlichen Problematik - die in der Praxis jedoch gar nicht mehr existiert.
D.h. wir haben einerseits extreme Rechte, die die Bilder aus 2015 sowie einzelne Vorfälle heute nutzen, um massive Fremdenfeindlichkeit zu schüren und ihre Position zu stärken - so wie wenn wir weiterhin dieses hohe Aufkommen an Flüchtlingen hätten, was schlicht falsch ist.
Und wir haben viele Menschen mit einem dumpfen Gefühl der Angst, die offen sind für die Parolen der extremen Rechten. Interessanterweise sind dies oft Menschen, die eher weniger Kontakt mit Ausländern haben, insbs. vor Ort fast keine Ausländer leben (*)
Das Problem sind also nicht tausende von Fremden in kleinen Orten, die wir nicht integrieren könnten, sondern die
Idee, es gäbe diese Fremden, die uns bedrohen würden. Zunächst muss man die Diskussion also mal versachlichen und die tatsächlich existierenden Probleme ansprechen.
Dabei kann und muss man sicher auch Integrationsprobleme und deren Ursachen ansprechen. Die größten Integrationsprobleme haben wir sicher über viele Jahrzehnte selbst verschuldet - indem wir es nicht geschafft haben, vielen der in dritter und vierter Generation hier lebender Menschen - mit deutscher Staatsbürgerschaft - ihren Platz und ihre Perspektive in unserer Gesellschaft aufzuzeigen. Diese Probleme existieren seit Jahren - meine Frau ist Konrektorin an einer sehr großen Schule mit hohem Ausländeranteil und kann das aus erster Hand beurteilen. Aber diese Probleme haben faktisch nichts mit Flüchtlingen aus Syrien zu tun, an denen sich die Situation 2015 entzündet hat - auch da kennt meine Frau schwer traumatisierte Kinder aus Syrien, die grauenvolle Bilder gesehen haben. Dabei existiert ein einziges echtes Problem, und das haben diese Kinder!!
Zum zweiten darf man sehr wohl das Problem von großen Flüchtlingsströmen und der Aufnahme- und Integrationsfähigkeit einer Gesellschaft ansprechen. Dabei muss aber klar sein, dass dies kein akut deutsches Problem ist, sondern dass wir dieses Problem sozusagen outgesourced haben - mit mittelbar extrem bedrohlich Konsequenzen. Z.B. haben wir eine Übereinkunft mit der Türkei, die uns einerseits erpressbar macht, und die andererseits massiv an die Stabilität der Türkei selbst gebunden ist. Man muss sich immer vor Augen halten, was passiert, wenn sich die politische Situation in einem Land ändert! Dann lassen wir andere Länder in Europa, sicher Italien, auch Spanien, mit diesem Problem alleine. Und leider ist fast jeder Staat an kurzfristig nationalen Egoismen orientiert und gefährdet damit die Stabilität des Ganzen. Deutschland schafft es nicht mehr, genügend politisches Gewicht in die Waagschale zu werfen um eine europäische Lösung zu erzielen. Das kann und darf uns aber nicht egal sein, weil die politische Stabilität Europas für Deutschland essentiell ist. Wir können sicher leichter einige zehntausend Menschen mehr integrieren, als das Außeinanderbrechen der EU wirtschaftlich, sozial und bzgl. unserer politischen Stabilität verkraften.
Wir müssten also eigentlich eine ganz andere Diskussion führen, wie wir nämlich zu einer europäischen Lösung kommen - was einerseits bedeutet, dass wir keine ungeregelte Zuwanderung haben, dass wir jedoch andererseits eine nach humanitären Maßstäben einwandfreie Behandlung der Flüchtenden europaweit sicherstellen und
mitfinanzieren, und dass wir uns auf einen europäischen
Verteilungsschlüssel einigen - was bedeuten würde, z.B. Flüchtlinge, die in Griechenland ankommen bei uns in Deutschland aufzunehmen. Diese Diskussion ist jedoch in keinem europäischen Land mehr möglich - und das ist das eigentliche Problem.
Zur Frage, was denn der Fehler der Bundeskanzlerin war: m.E. die Unterschätzung genau dieser Problematik. Sie hat die Wirkung einer kurzfristigen humanitären Maßnahme unterschätzt, die ihr und allen anderen Politikern langfristig humanitäre sowie politisch vernünftige Maßnahmen - und bereits den Diskurs darüber - unmöglich gemacht hat.
Ich weiß nicht, ob deine Bekannten politisch ungebildet sind. Ich weiß auch nicht, wie politisch gebildet ich bin. Ich stelle lediglich fest, dass auch in meinem Umfeld durchaus gebildete Menschen in eine Art Panikmodus verfallenen und damit - m.M.n. - die falschen Probleme hochstilisieren und die falschen Schlüsse ziehen: wir sind dabei, europäischen und humanistische Werte zu verraten, wir sind dabei, die politische und damit auch soziale Stabilität in Europa zu gefährden, und wir sind dabei, den Rechten wieder auf den Leim zu gehen - die Muster sind hinlänglich bekannt.