Die Erde durch die Gravitationsbrille
Redaktion
/ Pressemitteilung der Technischen Universität München astronews.com
27. November 2014
Die Auswertung der Daten der vor rund einem Jahr zu Ende
gegangenen Satelliten-Mission GOCE hat inzwischen zahlreiche wissenschaftliche
Resultate geliefert, darunter das bislang genaueste Schwerefeldmodell der Erde.
Der Blick auf die Erde durch die Gravitationsbrille erlaubt eine ganz neue Sicht
auf die dynamischen Prozesse auf unserer Heimatwelt.
Der Satellit GOCE.
Bild: ESA / AOES Medialab [Großansicht] |
Nur vier Monate nach dem Eintreffen des letzten Datenpakets von der
GOCE-Satellitenmission freuen sich die Forscher bereits über die reiche Ausbeute
an wissenschaftlichen Ergebnissen. Beendet sind die Arbeiten damit nicht - die
Wissenschaftler erwarten sich eine ganze Reihe weiterer interessanter Resultate,
die aus den Daten der Satellitenmission Gravity Field and Steady-State Ocean
Circulation Explorer (GOCE) resultieren, die von der europäischen
Weltraumagentur ESA durchgeführt wurde.
GOCE lieferte die bislang genauesten Messungen des Gravitationsfeldes der
Erde. Das von der Technischen Universität München (TUM) koordinierte GOCE
Gravity Consortium erzeugte sämtliche Datenprodukte der Mission,
einschließlich des fünften und endgültigen GOCE-Schwerefeldmodells. Auf dieser
Grundlage durchgeführte Arbeiten in den Fachgebieten Geophysik, Geologie,
Meeresströmungen, Klimawandel und Bauwesen ermöglichen einen neuen und
präziseren Blick auf die Dynamik unseres Planeten. Die ersten Resultate werden
in dieser Woche auf einem GOCE User Workshop in Paris vorgestellt.
Von seinem Start im März 2009 bis zu seinem Wiedereintritt in die Atmosphäre
im November 2013 umkreiste der GOCE-Satellit 27.000 Mal die Erde. Er vermaß die
winzigen Unterschiede im Schwerefeld, die die ungleichen Masseverteilung in den
Ozeanen, Kontinenten und tief im Erdinneren widerspiegeln. Etwa 800 Millionen
Beobachtungen flossen in die Berechnung des endgültigen Schwerefeldmodells ein.
Dieses besteht aus 75.000 Schwerefeldparametern und stellt das Gravitationsfeld
mit einer räumlichen Auflösung von etwa 70 Kilometern dar.
Mit jeder Modellversion nahm die Zahl der zugrundeliegenden Daten und damit
die Modellgenauigkeit weiter zu. Die Variationen des Geoids – die von der
Schwerkraft bestimmte physikalische Figur der Erde, die als globale Bezugsgröße
des Meeresspiegels und zur Angabe von Höhen dient – können nun zentimetergenau
angegeben werden – in einem Modell, das ausschließlich auf GOCE-Daten basiert.
Das fünfte und endgültige GOCE-Schwerefeldmodell profitiert zudem von zwei
besonderen Beobachtungsphasen. Nach den ersten drei Betriebsjahren wurde die
Umlaufbahn des Satelliten von 255 auf 225 Kilometer abgesenkt, um die
Empfindlichkeit der Schwerkraftmessungen zu erhöhen und damit noch
detailliertere Strukturen des Gravitationsfelds zu erfassen.
Zudem lieferten fast alle Instrumente während des kontrollierten
Wiedereintritts in die Atmosphäre weiterhin Messungen. Sie riefen weit über die
"Gravitationsgemeinde" hinaus großes Interesse hervor, beispielsweise bei
Wissenschaftlern, die sich mit Luft- und Raumfahrttechnik, Atmosphärenforschung
und Weltraumschrott befassen.
Durch die "Gravitationsbrille" können Forscher nun ein Bild unseres Planeten
zeichnen, das die auf Licht, Magnetismus und seismischen Wellen beruhenden
Darstellungen ergänzt. Wissenschaftler können die Geschwindigkeit der
Meeresströmungen vom Weltraum aus bestimmen, das Ansteigen des Meeresspiegels
und das Abschmelzen der Eisdecken verfolgen, verborgene Strukturen der
kontinentalen Geologie aufdecken und sogar Einblick in die der Plattentektonik
zugrunde liegenden Konvektionsmechanismen erhalten.
Der größte Teil der mehr als 100 Vorträge, die in dieser Woche auf dem für
den 5. GOCE User Workshop geplant sind, wird sich mit diesen Themen befassen,
während Diskussionen technischer Art über Messungen und Modelle eine geringere
Rolle spielen. "Ich werte es als Erfolg, dass sich der Schwerpunkt ganz klar auf
die Seite der Anwender verlagert hat," sagt Prof. Roland Pail, Direktor des
Instituts für Astronomische und Physikalische Geodäsie an der Technischen
Universität München (TUM).
Diese Verschiebung lässt sich auch deutlich an den von den TUM-Forschern
behandelten Themen erkennen, wie zum Beispiel die auf dem
GOCE-Gravitationsmodell beruhenden Berechnungen der elastischen Mächtigkeit der
Kontinente, das aus dem Erdschwerefeld abgeleitete Abschmelzen von Eismassen in
der Antarktis oder ein wissenschaftlicher Plan für die weltweite
Vereinheitlichung nationaler Höhensysteme. Außerdem wird auch in die Zukunft
geblickt und über die wissenschaftlichen Anforderungen für eine
Gravitationsfeld-Mission der nächsten Generation gesprochen.
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