Rolle von Galaxienkollisionen überschätzt?
von Stefan Deiters astronews.com
14. September 2011
Beobachtungen mit dem europäischen Infrarot-Weltraumteleskop
Herschel deuten darauf hin, dass es in Galaxien auch dann zu heftiger
Sternentstehung kommen kann, wenn die Systeme zuvor nicht in eine Kollision
verwickelt waren. Der Fund widerspricht der bisherigen Theorie, nach der heftige
Phasen von Sternentstehung durch Galaxienkollisionen ausgelöst werden.
So könnte es aussehen, wenn eine Galaxie
kaltes Gas aus ihrer Umgebung anzieht. Dieses Gas
würde dann als Grundlage für weitere
Sternentstehung dienen.
Bild: ESA-AOES Medialab [Großansicht] |
Die Schlussfolgerungen der Astronomen basieren auf Beobachtungen
mit dem europäischen Infrarot-Weltraumteleskop Herschel, die in zwei kleinen
Bereichen des Nachthimmels gemacht wurden, die jeweils etwa ein Drittel der
Fläche des Vollmonds ausmachen. Die Regionen sind als Great Observatories
Origins Deep Survey (GOODS) Nord und Süd bekannt (astronews.com berichtete
wiederholt über Beobachtungen in diesen Bereichen). Durch die beiden Felder blickt
Herschel praktisch wie durch ein Schlüsselloch in die Geschichte des Universums
- insgesamt konnte das Teleskop hier über 1.000 Galaxien in ganz
unterschiedlicher Entfernung ausmachen und so die Entwicklungsgeschichte von
Galaxien über eine Spanne von rund 80 Prozent des Alters des
Universums studieren.
Das Besondere an den Herschel-Beobachtungen ist, dass das Teleskop einen sehr
großen Wellenlängenbereich im Infraroten abdecken kann, was ein
weitaus vollständigeres Bild über die Sternentstehung in den Galaxien liefert. Schon seit
Längerem war den Astronomen bekannt, dass die Rate, mit der
neue Sterne entstehen vor etwa zehn Milliarden Jahren am höchsten war. Sie
lag damals oft um das 10- bis 100-fache über der Sternentstehungsrate in unserer
Milchstraße.
In unserer galaktischen Umgebung kommt es zu solch hohen
Sternentstehungsraten nur äußerst selten. Wenn sie aber dennoch auftreten, dann
lassen sie sich auf die Kollision zweier Galaxien zurückführen. So kam es zu der
Vermutung, dass Kollisionen in der Geschichte des Universums immer für heftige
Sternentstehungsphasen verantwortlich waren. Dies erschien auch deswegen plausibel, weil es im jungen Universum
deutlich häufiger zu Kollisionen zwischen Galaxien gekommen sein sollte, als in
der Gegenwart. Die Beobachtungen von Herschel von Galaxien in sehr
großer Entfernung zeigen nun, dass diese Vorstellung offenbar einer Korrektur
bedarf.
David Elbaz vom CEA im französischen Saclay und seine Kollegen haben durch
Auswertung der Herschel-Daten festgestellt, dass Kollisionen von Galaxien in der
Vergangenheit als Auslöser von Sternentstehung eine nur geringe Rolle gespielt
haben, obwohl in diesen jungen Galaxien manchmal mit einer extrem hohen Rate
neue Sterne entstehen. Durch Beobachtungen dieser Galaxien in unterschiedlichen
infraroten Wellenlängenbereichen konnten die Astronomen zeigen, dass die
Sternentstehungsrate allein von der Menge an Gas in diesen Galaxien abhängt und
nicht davon, ob sie in eine Kollision verwickelt waren oder nicht.
Offenbar gilt eine recht simple und naheliegende Regel: Je mehr
Gas sich in einer Galaxie befindet, desto mehr Sterne werden geboren. Gas ist
der Grundbaustein für alle Sterne. "Nur in
Galaxien, in denen sich nicht sowieso schon eine große Menge an Gas befindet, benötigt
man eine Kollision, um hohe Sternentstehungsraten zu bekommen", erläutert Elbaz.
Dies gelte sogar für heutige Galaxien: Da in ihnen bereits seit mehr als
zehn Milliarden Jahren Sterne entstehen, ist ihr Gasvorrat inzwischen erschöpft
und die Sternentstehungsrate deswegen gering.
Das neue Bild, das die auf Herschel-Daten basierende Studie von der Geschichte der Sternentstehung
in Galaxien zeichnet, ist somit deutlich ruhiger und weniger gewaltsam als die bisherige Version.
Die meisten Galaxien wachsen offenbar sehr gemächlich auf ganz natürliche Weise
durch das Gas, was sie aus ihrer Umgebung anziehen können. "Herschel wurde
geplant, um die Geschichte der Sternentstehung im Universum zu erforschen", so
Göran Pilbratt, Herschel-Projektwissenschaftler bei der europäischen
Weltraumagentur ESA. "Diese neuen Beobachtungen verändern nun unser Bild von der
Geschichte des Universums."
Die Wissenschaftler berichten über ihre Resultate in einem Artikel in der
Fachzeitschrift Astronomy & Astrophysics.
|