Das Rätsel der anomalen kosmischen Strahlung
von
Hans Zekl
für
astronews.com
21. Februar 2006
Als die Sonde Voyager 1 im Dezember 2004 den Rand des
Sonnensystems erreichte, erlebten die Astronomen eine Enttäuschung. Sie hatten
gehofft, dort die Quelle der anomalen kosmischen Strahlung zu finden. Stattdessen stellte sich heraus, dass alle theoretischen Überlegungen der letzten 20
Jahre falsch waren. Doch jetzt scheinen zwei Forscher eine Erklärung gefunden zu
haben.
Die Form der Heliosphäre hat entscheidenden
Einfluss auf die Beschleunigung der Teilchen. Danach entsteht
die anomale kosmische Strahlung in den seitlichen Bereichen der
die Sonne umgebenden Heliosphäre. Bild: Geophysical
Research Letters
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Vor nahezu 100 Jahren fand der österreichische Physiker bei Ballonflügen
Hinweise auf eine energiereiche Strahlung aus dem Weltraum, die kosmische
Strahlung oder Höhenstrahlung, wie sie damals genannt wurde. Sie besteht im
Gegensatz zu Licht oder Röntgenstrahlen nicht aus elektromagnetischen Wellen, sondern aus Teilchen mit sehr hohen Geschwindigkeiten.
Die überwiegende Mehrheit
bilden elektrisch geladene Protonen und Alpha-Teilchen, Heliumkerne, während
Elektronen nur rund drei Prozent ausmachen. Später entdeckten Forscher eine
relativ energiearme Komponente der kosmischen Strahlung, die vorwiegend aus
elektrisch geladenen Helium-, Sauerstoff-, Neon- und Stickstoffatomen, also
Ionen, besteht, die so genannte anomale kosmische Strahlung.
Während die Quellen der normalen, galaktischen kosmischen Strahlung bis heute
unbekannt sind, entwickelten Wissenschaftler in den letzten 20 Jahren Modelle
für den Ursprung des anomalen Bestandteils. Danach entsteht er im
Übergangsbereich zwischen unserem Sonnensystem und dem interstellaren Medium.
Pro Sekunde schleudert unsere Sonne etwa eine Million Tonnen Elektronen,
Protonen und Ionen in den Weltraum.
An der Erde weht dieser Sonnenwind mit einer
mittleren Geschwindigkeit von 400 Kilometern pro Sekunde. Darin eingefroren wird das
solare Magnetfeld mitgeschleppt. In einer Entfernung von etwa 100 Astronomischen Einheiten, dem hundertfachen Erdabstand von der Sonne, trifft dieser Teilchenwind
auf das umgebende interstellare Medium, durch das sich die Sonne mit rund 25
Kilometern pro Sekunde bewegt. Dort wird der Sonnenwind rasch abgebremst und es
bildet sich eine so genannte Stoßfront.
Im Grenzbereich zwischen der Heliosphäre, dem Bereich, in dem der Einfluss der
Sonne dominiert, und dem interstellaren Medium sollte die anomale kosmische
Strahlung entstehen. Neutrale Atome, die von Magnetfeldern nicht beeinflusst
werden, dringen dabei tief in die Heliosphäre ein, werden aber durch die
UV-Strahlung der Sonne und Stöße mit Elektronen elektrisch aufgeladen. Das
Magnetfeld im Sonnenwind transportiert sie dann zurück zur Stoßfront, wo sie
dann beschleunigt werden und als anomale kosmische Strahlung dann zur Erde
gelangen.
Soweit die Theorie: Nur, als die Sonde Voyager 1 die Stoßfront passierte,
fand sie nur wenige Teilchen. "Die Modelle zeigten, dass wir die Energiequelle
der anomalen kosmischen Strahlung in der Stoßfront sehen sollten," erläuterte
David McComas vom Southwest Research Institute den Befund. "Wir waren uns
ziemlich sicher, dass wir wussten, was wir finden würden. Aber als wir dort
ankamen, war alles ganz anders und sicher war dort nicht der Ursprung der
Strahlung." Offenbar war also die Vorstellung der Astronomen falsch.
Mit einer neuen Theorie, die in der Ausgabe vom 17. Februar der Fachzeitschrift
Geophysical Research Letters veröffentlicht wurde, meinen die
Wissenschaftler McComas und Nathan Schwadron von der Boston University
das Problem gelöst zu haben. Sie fanden heraus, dass die Form der Stoßfront im
Gegensatz zu den bisherigen Annahmen von entscheidender Bedeutung ist.
Voyager 1 traf den Rand der Heliosphäre in der Nähe des vorderen Endes.
Das
Modell der beiden Wissenschaftler sagt für diesen Fall tatsächlich nur wenige
Teilchen der anomalen Strahlung voraus. Da sich das Sonnensystem durch das
interstellare Medium bewegt, kann die Heliosphäre nicht kugelförmig sein. "Durch
den Staudruck in Flugrichtung besitzt sie eine abgeflachte eiförmige Form,"
erklärte Schwadron. "Die abgeflachte Nase sorgt dafür, dass die Beschleunigung
zeitabhängig ist."
Die Rechnungen der beiden Wissenschaftler zeigen, dass sich die Teilchen der
anomalen Strahlung etwa 300 Tage in der Nähe der Stelle aufhalten, an der die
Feldlinien des Magnetfelds der Sonne auf die Stoßfront treffen. Die
Kontaktstelle wandert dann im Laufe der Zeit seitlich nach hinten. Dabei
gewinnen die Strahlungsteilchen an Energie. Deshalb befindet sich nach McComas
und Schwadron der eigentliche Ursprung der anomalen kosmischen Strahlung an den
Flanken der Heliosphäre.
Voyager 2 wird in den nächsten zwei bis drei Jahren ebenfalls auf die
Stoßfront treffen, allerdings mehr seitlich als ihre Schwestersonde. Nach dem
neuen Modell sollte sie deshalb deutlich mehr Teilchen registrieren, ein erster
Test der Theorie. Genaueres erhoffen sich Forscher vom Interstellar Boundary
Explorer (IBEX), der im Sommer 2008 gestartet werden soll. Mit ihm wird es
erstmals möglich sein, ein globales Bild der Vorgänge in verschiedenen Bereichen
der Schockfront zu erhalten.
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